Die Fuenfzig vom Abendblatt
erst wieder im Hause seines Vaters. Mr. Voss hatte absichtlich Wert darauf gelegt, daß sein Junge nicht allzufrüh als „Mister Voss junior“ bekannt würde. Und das war auch mit Harald so verabredet.
Für Richard hatte sich seit dem letzten halben Jahr einiges geändert. Harald brauchte keinen Diener oder „Butler“. Er zog seine Schuhe selbst an, und zum Binden einer Krawatte brauchte er auch keine Hilfe. Aus dem einfachen Grunde, weil er Krawatten nicht besonders gern hatte und am liebsten sein Hemd am Kragen offen ließ.
Schon am zweiten Tag mußte Richard seine schwarze Kleidung mit den Silberknöpfen ausziehen. Er bekam einen nagelneuen Trainingsanzug, Turnschuhe und wurde herzlich gebeten, sich im übrigen so anzuziehen, wie er sich eben privat anzuziehen pflegte. Er hatte gelernt, auf dem Rücksitz eines Motorrollers zu fahren, ein Segelboot zu bedienen und mit der Stoppuhr umzugehen.
Der Regen ließ zum Glück endlich etwas nach. Nur der Wind vom Westen her blieb. Richard hatte alle Mühe, den aufgespannten Schirm so zu halten, daß er nicht umgestülpt wurde wie ein Handschuh.
„Acht dreißig rief Richard laut gegen den Wind. Und dann wagte er noch, genauso laut zu bemerken:
„Sie werden sich erkälten! Ich gestatte mir, darauf aufmerksam zu machen, daß bei dieser Witterung für alle infektiösen Krankheiten akute Gefahr besteht!“
Doch als Richard, sich um die eigene Achse drehend, damit er mit seiner Stimme dem Vorüberfahrenden folgen könne, den Satz zu Ende gerufen hatte, war Harald bereits wieder in die jenseitige Kurve eingebogen und schöpfte Luft für die Gerade, die jetzt wieder vor ihm lag.
Der Junge war am ganzen Leibe durchnäßt, so daß ihm Haar und Trikot an der Haut klebten. Zudem war er noch von dem unter den Reifen aufspritzenden Wasser ziemlich eingedeckt. So sah er aus wie jene Querfeldeinrennfahrer, die man ja des öfteren in Illustrierten finden kann und die stets mehr aus einem Schlammbad als von einem Fahrradrennen zu kommen scheinen.
In diesem Augenblick tauchte unter der rückwärtigen Tür der Villa Haralds Mutter auf. Frau Voss schien ihren Jungen vergebens im Hause gesucht zu haben und war wohl zu Anfang gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß der Vermißte bei diesem Wetter noch im Freien sein könnte. Nun, da sie ihn doch mitten im Regen entdeckt hatte, winkte sie in ehrlicher Besorgnis zum Sportplatz hinüber, ohne sich allerdings selbst dem Regen auszusetzen.
Richard sah sich in einer peinlichen Lage. Würde er nun nicht alles versuchen, seinen jungen Herrn vom Rad und von der Aschenbahn zu bringen, hatte er schlimmste Auseinandersetzungen mit Haralds Mutter zu gewärtigen. Denn sie war es schließlich, die ihm zu jedem Monatsende seinen Lohn auszuzahlen pflegte. Würde er aber jetzt seinen Platz verlassen und ganz einfach mit der Stoppuhr in der Tasche fahnenflüchtig werden, war er künftig für Harald nur noch Luft.
Richard mochte also tun, was er wollte. Beide Parteien konnte er nicht gleichzeitig zufriedenstellend bedienen. Blieb ihm nur ein Kompromiß.
So rief er einerseits dem vorbeifahrenden Jungen die gestoppte Rundenzeit zu, fuchtelte dabei aber andererseits so wild mit seinen Armen durch die Luft, daß die Dame unter dem Eingang ihrer Villa mit Bestimmtheit annehmen mußte, er mache ihrem Sohn die ernsthaftesten Vorwürfe.
„Zwölf Null vier!“
Harald hatte erneut seinen Stoppunkt passiert. Und Richard rief nun mit erhobener Stimme und mit theatralischen Gesten hinter dem Jungen her: „Ich beschwöre Sie, diese gefährlichen Übungen einzustellen! Ihre Frau Mutter ist in größter Sorge — eh — eh!“
Doch der Junge war längst wieder auf der Strecke. Da ließ Richard jetzt in Richtung der Villa die Arme sinken und eindrucksvoll die Schultern hängen, als wolle er sagen: „Was ich konnte, habe ich getan, aber leider, leider... Sie sehen ja selbst, gnädige Frau — “
Harald konzentrierte sich ganz auf seine letzte Runde. Jetzt, hier ab der Kurve, wollte er zum Endspurt ansetzen. Sehen, ob er es bis zum Ziel aushielt. Im letzten Auslauf der Kurve spürte er noch deutlich, wie er schneller wurde. Aber er spürte auch, wie die Aschenbahn jetzt allmählich doch durchnäßt war und immer schwerer wurde.
In der Mitte der Zielgeraden sprang ihn der gefürchtete „Tote Punkt“ an. Der Wunsch, jetzt nachzulassen. Aber er überwand diesen Augenblick wie eine Hürde, die vor dem Ziel noch zu nehmen ist. Er biß die Zähne zusammen und
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