Die Gabe der Magie
sich.
Hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Toten zu zählen? Niemand
antwortete ihm, was ihm jedoch gar nicht aufzufallen schien. »Bald wird man von
euch verlangen, das erste Lied fehlerfrei wiederzugeben«, sagte er. »Ihr werdet
hungern, bis ihr es beherrscht.«
Nur kurz sah ich zu Will, der einen
leisen, traurigen Seufzer ausstieß. Doch als ich mich wieder herumdrehte, war
Somiss verschwunden. Auch der Stuhl war fort. Wir waren allein mit unserem
Schweigen und unserer Angst. Will stand auf und hastete aus der Kammer. Ich
konnte hören, wie er versuchte, sein Schluchzen zu ersticken.
57
AM ERSTEN IHRER FREIEN TAGE GAB SADIMA
VOR, SCHON FRÜH ZUR ARBEIT ZU GEHEN, BEVOR FRANKLIN ODER Somiss aus ihren Zimmern
gekommen waren. Sie fand eine Eiche mit einem breiten Stamm, hinter dem sie
sich verstecken und trotzdem noch das Tor zur Straße im Auge behalten konnte.
Zitternd setzte sie sich zurecht und wartete, ihr Schultertuch gegen die Kälte
eng um sich geschlungen.
Es dauerte nicht lange, bis sie Somiss
entdeckte, der die Wohnung allein verließ. Er trug den üblichen Hut und eine
dunkle Wolljacke, die sie bisher noch nie an ihm gesehen hatte. Ohne sich
umzudrehen ging er nach Westen und bog dann in die Carver Street ein. Solange
es ging, sah sie ihm nach – bei der vierten oder fünften Ecke wandte er sich
nach rechts.
Bis Franklin mit einem Stoffsack über der
Schulter herauskam, dauerte es einige Zeit. Auch er trug einen Hut, jedoch
keine Jacke. Die Tasche schaukelte im Takt seiner Schritte hin und her, während
er sich Richtung Osten aufmachte. Sadima biss sich auf die Lippe. Inzwischen
hatte Somiss sie alle so weit gebracht, dass sie sich verkleideten. Ihm war es
natürlich völlig gleichgültig, ob Franklin bis auf die Knochen fror, solange
ihn selbst nur niemand erkannte.
Sadima wartete einige Augenblicke, ehe sie
die Verfolgung aufnahm, blieb jedoch immer so weit zurück, wie es möglich war,
ohne Franklin aus den Augen zu verlieren. Während sie ihm nachging, nahm sie
sich fest vor, nur nachzusehen, wohin er unterwegs war, und dann wieder
umzudrehen.
Die Schultern vornübergebeugt und die
Hände in den Taschen, schritt Franklin rasch aus. Sadima musste sich
anstrengen, um mitzuhalten. Zweimal dachte sie schon, dass sie ihn endgültig
verloren hätte, doch es gelang ihr, ihn wiederzufinden. Mit der Zeit wurde
immer deutlicher, dass er mehr oder weniger dem Weg folgte, den sie am Tag
ihres gemeinsamen Ausflugs genommen hatten.
Als Franklin mit ihr im Schlepptau die
Gegend des North Ends erreicht hatte, ließ sie sich noch weiter zurückfallen.
Hier waren nicht annähernd so viele Leute auf der Straße, und es gab keine
Menschenmengen mehr, in denen Sadima untertauchen konnte. Schließlich sah sie, wie
Franklin die Straße verließ und den verschlungenen Weg einschlug, den sie
damals zusammen gegangen waren. Sie wartete ab, bis er einen noch großzügigeren
Vorsprung hatte, ehe sie ihm folgte. Seine Tasche sah schwer aus. Werkzeuge
vielleicht? Richtete Franklin ein Lager ein? Einen Platz, an dem sich Somiss
vor den Männern seines Vaters verstecken konnte?
Sie schüttelte den Kopf. Franklin und
Somiss waren keine kleinen Jungen mehr, die von zu Hause fortliefen.
Keinesfalls konnten sie ernsthaft glauben, dass sie den Winter hier draußen verbringen
könnten. Dann erinnerte sie sich an die alten Stufen, von denen sie ihr erzählt
hatten. Der Felshang.
Vielleicht hatten sie eine Höhle entdeckt
oder ein paar Haufen umgestürzter Steine, ähnlich der Steinkreise in der
Umgebung Fernes. Doch solange sie nicht ein verlassenes Haus mit einem guten
Dach gefunden hatten, würden sie hier draußen erfrieren, wenn der Winter kam.
Als sie merkte, dass sie zu Franklin
aufschloss, verlangsamte sie ihren Gang und hielt sich am Waldrand, bereit,
sich zu verstecken, falls Franklin auf dem Pfad kehrtmachte. Was immer er tat –
vielleicht würde ihr irgendwann, wenn nicht heute, dann eben morgen, eine
Möglichkeit einfallen, ihm auf dem Rückweg wie zufällig zu begegnen. Dann
brauchte sie nicht zuzugeben, dass sie ihm gefolgt war. Doch sie würden immerhin
ein wenig Zeit allein miteinander haben. Sadima errötete. Worauf hoffte sie?
Einen Kuss? Warum sollte ein weiterer Kuss etwas verändern oder gar etwas
besser machen? Franklin würde Somiss nicht verlassen.
Erneut schüttelte Sadima den Kopf. So
großartig war Somiss doch gar nicht. Eigentlich war er immer noch nicht mehr
als ein naseweiser
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