Die Gabe der Magie
Junge, dem es beinahe ebenso viel Spaß machte, seinen Vater
zu erzürnen und Franklin herumzuschubsen, wie vorzugeben, heldenhaft und bedeutsam
zu sein. Warum erkannte Franklin das nicht?
Schrilles Geschrei riss sie aus ihren
Gedanken, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
Waren das Kinderstimmen?
58
ES WAR SELTSAM, ALLE ZUR GLEICHEN ZEIT IM
SPEISESAAL ANZUTREFFEN. JEDER VON UNS WAR WEGEN EINER Antwort auf dieselbe Frage gekommen. Es dauerte nicht lange.
Somiss hatte keine leere Drohung ausgesprochen. Niemand vermochte mehr, Nahrung
zu erschaffen.
Ich kämpfte gegen den vertrauten Knoten
der Angst in meinem Bauch an, als ich in unseren Raum zurückkehrte. Natürlich
könnte ich zur Halle der Hoffnung gehen und irgendetwas zum Abendessen holen,
doch vielleicht standen wir unter Beobachtung. Was, wenn ich erwischt würde?
Mein Hunger war nicht einmal annähernd stark genug, um dieses Risiko einzugehen.
Jedenfalls noch nicht. Ich kratzte an den Ameisenbissen und ließ mich mit den Liedern
der Ältesten auf dem Bett nieder.
Gerrard kam herein und setzte sich. Wie
üblich drehte er mir den Rücken zu. Ich sah, wie er das Geschichtsbuch zur Hand
nahm, und fühlte eine Gänsehaut auf meinen Armen. Warum? Hatte er das erste
Lied etwa bereits gelernt? Als habe er meine Gedanken gehört, schaute mich
Gerrard über seine Schulter hinweg an. Dann widmete er sich wieder seiner
Lektüre.
Mit großer Geste schloss ich das Buch der
Lieder und griff ebenfalls nach meinem Geschichtsbuch, doch ich fühlte mich wie
ein Trottel. Gerrard konnte mich nicht sehen, und selbst wenn doch, wäre es ihm
wahrscheinlich völlig egal, womit ich mich beschäftigte. Trotzdem, nur für den
Fall, dass er sich umdrehen würde, blätterte ich einige Seiten durch, als würde
ich nach etwas suchen. Dabei fielen mir die Vier Eide auf. Der Text besagte,
dass sie nur von Absolventen abgelegt wurden. Vermutlich wollten die Zauberer,
dass wir sie kannten, falls wir lange genug überlebten, um uns damit zu
beschäftigen. Die Wortwahl der übereinanderstehenden Eide verdeutlichte so
nachdrücklich wie alles andere, was den glücklichen Absolventen erwartete:
Der Eid der lebenslangen Abgeschiedenheit
Der Eid des lebenslangen Schweigens
Der Eid des lebenslangen Zölibats
Der Eid der lebenslangen Armut
DAS WAREN DIE BELOHNUNGEN FÜR EINEN
ABSCHLUSS? ALLEM ABZUSCHWÖREN, WAS DEN MEISTEN MENSCHEN etwas bedeutete? Ich warf das Geschichtsbuch zur Seite und öffnete
das Liederbuch. Der erste Text war eine Seite lang, doch jedes Wort war
vollkommen unverständlich; keines schien mir aus einer Sprache zu stammen, die
ich kannte oder jemals gehört hatte. Lieder? Würden wir sie am Ende
singen müssen?
Ich mühte mich durch die erste Zeile und
versuchte, die Aussprache der einzelnen Worte zu erahnen. Dinge auswendig
lernen zu müssen hatte ich schon immer gehasst: Gedichte, die Namen von Königen
und ihren Erben … Egal, was mir aufgetragen wurde: Ich war einfach
nicht gut darin. Offensichtlich wohl auch nicht darin, Ameisen in Schach zu
halten. Mein ganzer Körper juckte und schmerzte, während ich versuchte,
zumindest die Aussprache der ersten Zeile herauszufinden und sie dann auswendig
zu lernen.
Nach geraumer Zeit hörte ich auf zu lesen
und sah zu der schattigen Decke empor, während ich einen Ameisenbiss an meinem
Nacken kratzte. Vielleicht hatten die Zauberer nicht nur vor, mich hungern zu
lassen, sondern würden mir auch meinen grünen Umhang wieder fortnehmen. Ob sie
mir meinen alten zurückgeben würden? Oder würde ich nackt bleiben, bis ich ein
unverständliches Lied auswendig gelernt hatte, mit Ameisen reden und fliegen
konnte, indem ich mit den Ohren flatterte? Plötzlich war ich so erschöpft, dass
ich meine Augen schloss. Alles begann von Neuem. Jungen würden verhungern, und
dieses Mal könnte ich einer von ihnen sein.
Als der Zauberer gegen die Tür hämmerte,
schreckte ich aus dem Schlaf empor, und das Liederbuch fiel zu Boden. War auch
nur eine einzige Stunde vergangen? Es hatte sich eher wie Minuten angefühlt.
Jeder Teil meines Körpers war müde. Diesmal führte der Zauberer uns in eine
andere Kammer mit einem anderen Sessel darin. Einen Augenblick später erschien
Somiss. Während er uns einen nach dem anderen das Lied vortragen ließ,
unterbrach er uns, um unsere Aussprache zu korrigieren. Die meisten der Jungen
schafften nur den ersten Vers, einige sogar noch weniger. Wieder und wieder
mussten wir alle von vorne
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