Die Gabe der Magie
ihre Hände erneut auf
Rebeccas Gesicht. Sie merkte, wie die übliche Flut von Bildern und Gefühlen aus
der Ziege in ihre Hände strömte. Sadima schloss die Augen, kämpfte gegen den
Fluss an, bis er versiegte, dann schob sie ihn zurück und drängte all ihre
Stärke und ihren Mut, den sie in sich finden konnte, in ihre alte Freundin.
Lange geschah nichts. Dann rührte sich
Rebecca und öffnete die Augen. Langsam rollte sie sich auf den Bauch. Sadima
hockte sich hin und lächelte zu Franklin hinauf. Er erwiderte ihr Strahlen.
Rebecca schüttelte sich, als erwache sie aus einem Mittagsschlaf.
Bei der nächsten Wehe presste die Ziege,
dann noch einmal – und Sadima sah, wie ein winziger Huf zum Vorschein kam und
sich wieder zurückzog. »Sie liebt dich«, sagte Franklin. »Wir glauben, dass es das
einfacher macht.«
Sadima hörte ihn kaum. Drei Wehen später
schoben sich zwei winzige Hufe aus dem Körper der Ziege. Minuten später zog
Sadima sanft an ihnen, um den Austritt zu erleichtern, und das erste Junge war
geboren. Sie wartete, bis die Plazenta kam, und durchtrennte die Nabelschnur
mit einem drahtigen Grashalm. Das zweite Kind fand leichter auf die Welt. Und
dann wurde kurze Zeit darauf noch ein drittes geboren, das kleiner war als die
anderen, und dann ein viertes mit
schweren Knochen. Dieses letz te Zicklein hatte eine seltsam graubraune
Farbe, die Sadima noch nie zuvor in ihrer Herde gesehen hatte.
Sie alle rieb Sadima mit Büscheln von
Riedgras ab. Ohne ein Wort zu verlieren, half ihr der Magier; er beobachtete
genau, was sie tat, und ahmte es dann nach. Sadima benutzte eine saubere Ecke
ihres Kleides, um sich über das Gesicht zu wischen. »Danke«, sagte sie und sah
auf. »Wenn du nicht gekommen wärst, wäre sie tot.« Dann schüttelte sie den
Kopf. »Vier!«
»Ist es selten, dass eine Geiß vier Kinder
hat?«, fragte Franklin.
Sadima warf ihm einen Blick zu. »Wo lebst
du denn, dass du nicht weißt, wie viele Kinder eine Ziege hat?«, fragte
sie.
»In Limori.« Franklin lächelte sie an, und
Sadima bemerkte, dass sie errötete. Sie wollte fragen, ob die Geschichten, die
ihr Bruder gehört hatte, wahr waren, und ob es dort Menschen mit grüner Haut
und Schiffe größer als Häuser gab. Stattdessen jedoch hob sie das kleinste
Zicklein auf und wiegte es an ihre Brust gepresst, um es warm zu halten. Die
anderen hatten sich an die Mutter gedrängt und schliefen. Rebecca leckte das
graubraune.
»Ich bin kein richtiger Magier«, sagte
Franklin. »Somiss sagt, das ist überhaupt niemand, jedenfalls jetzt noch
nicht.«
Sadima schaute ihn an. »Wer ist Somiss?«
Franklin hob den Blick gen Himmel, dann
schaute er Sadima in die Augen. »Mein Lehrmeister. Ich stehe in seinen
Diensten, seitdem wir beide sehr junge Kinder waren. Er ist der fähigste Mann
unter den Lebenden. Habt ihr Magier auf eurem Marktplatz? Kennst du die alten
Geschichten?«
Sadima nickte und spürte, wie sich die
Härchen an ihren Armen aufstellten. »Wenn du die Geschichten meinst, die man
sich im Winter am Herd erzählt, von Kriegen und Zauberern und Schiffen auf dem
Meer, so hat mir mein Bruder einige erzählt.«
Franklin lächelte. »Somiss sagt, dass
einige davon we nigstens zum Teil wahr sind,
vielleicht aber auch ganz und gar.« Er klopfte sich gegen die Stirn: »Wann hast
du denn zum ersten Mal die Gedanken der Tiere verstanden?«
Sadima zögerte und blickte in seine
dunklen Augen. Sie hatte es nie jemandem erzählen können. Als sie es vor vielen
Jahren versucht hatte, hatte ihr Vater sie bestraft, weil er sagte, sie würde
lügen. Micah war davon überzeugt gewesen, dass die Ratte, die ihr Gesicht
berührt hatte, krank und ihre Instinkte betäubt gewesen waren. Sadima hatte
ihrem Vater gegenüber behauptet, dass ihre geringe Größe und ihr törichter
Mangel an Furcht Shy beruhigt hatten.
Franklin seufzte. »Ich weiß, dass du es
für dich behalten hast, damit man dich keine Lügnerin schimpft. Aber ich weiß auch,
dass es wahr ist.«
Sadima sah an ihm vorbei in den Himmel.
Wie konnte er etwas über sie wissen, von dem ihr Vater und ihr Bruder nichts
ahnten? Dann senkte sie den Blick wieder. Franklin wartete, sein Gesicht war
freundlich, ruhig und hübsch.
»Schon immer, glaube ich«, sagte sie
leise.
Franklin wartete nach wie vor und sah sie
einfach nur an.
Sadima senkte den Blick und starrte auf
den Boden. Dann erzählte sie, was Micah ihr von dem Erlebnis mit der Ratte
berichtet hatte. »Er sagte, ich sei damals
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