Die Gabe der Magie
reden.
»Sie leben hier ganz in der Nähe«, sagte
sie und setzte sich in Bewegung. »Somiss ist der Hübschere«, fügte sie über die
Schulter hinweg hinzu und führte Sadima unter dem riesigen Feigenbaum, der den
Marktplatz überschattete, hinaus, zurück auf die sonnige Straße. »Die Mädchen
versuchen immer, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber er merkt es nie.
Früher hat er viel mit Franklin gescherzt; sie waren wie Buben, als ich sie zum
ersten Mal traf. Aber nun ist er zu ernst geworden.« Sie drehte sich um und
lächelte. »Die Liebe würde ihm gut tun.« Sadima nickte, um zu zeigen, dass sie
zuhörte, antwortete jedoch nichts. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen
sollte.
Maude war unter ihrer seltsamen
Gesichtsbemalung sehr schön. Die Menschen auf den Gehwegen waren alle so gut angezogen,
so hübsch und so … sauber. Ihre Fingernägel, ihr Haar, ihre Kleidung. Hatte
denn niemand von ihnen Feldarbeit zu verrichten? Der Gedanke kam zu rasch, als
dass Sadima ihn verdrängen konnte, aber sie fühlte sich sofort töricht. Auf
welchen Feldern denn?
Sadima folgte Maude. Sie lief unsicher auf
dem harten Kopfsteinpflaster und schaute immer wieder zurück zum Marktplatz.
Jede Seele in Ferne würde nicht einmal ein Zehntel der Fläche ausfüllen.
»Du bist ein hübsches Mädchen«, sagte
Maude. »Zwinkere Somiss zu und schau, was geschieht, ja?« Sie musterte Sadima
von oben nach unten, dann hob sie die Augenbrauen. »Vielleicht solltest du
warten, bis du ein Bad genommen hast. Oder auch zwei.«
Sadima errötete beschämt. Sie strich sich
mit den Händen über das Kleid, dann rückte sie ihr Bündel höher auf die
Schulter und starrte auf die bevölkerte Straße. Sie hatte sich Häuser
vorgestellt wie jenes, in dem sie aufgewachsen war, nur eben dichter gedrängt.
Sie hatte sich Staub und schmutzige Straßen
vorgestellt wie die in Fer ne, nur
breiter. Es fühlte sich seltsam an, auf Steinen zu lau fen. Ihre schon
abgestoßenen Reiseschuhe würden hier nicht lange halten.
»Gleich dort drüben«, sagte Maude, blieb
stehen und zeigte auf etwas. »Das getünchte Haus dort an der Ecke von da Masi
und dem Markt. Sie wohnen im dritten Stock. Siehst du den kleinen Balkon?«
Sadima nickte und starrte empor. Wie war
es möglich, Häuser zu bauen, die so hoch waren? Was hielt sie davon ab,
umzustürzen?
»Da ist es«, sagte Maude. »Die Treppe ist im Innern. Sie wohnen hinter einer leuchtend grünen Tür. Franklin hat sie
gestrichen, um Somiss in den dunklen Wintertagen aufzuheitern. Sie sind in
vielerlei Hinsicht beinahe wie Brüder.« Sie lächelte, dann beugte sie sich
näher. »Die alte Frau im ersten Stock ist die Besitzerin des Hauses, und sie
ist so sauer wie vier Tage alte Milch.«
Sadima dankte ihr, und Maude drehte sich
um. Ihr schwarzer Umhang bauschte sich, als sie sich wieder auf den Weg zum
Marktplatz machte. Sadima lief weiter und fühlte sich beinahe schwach. Sie war hier .
Sie hatte es wirklich getan. War die alte Frau Franklins Mutter? Eine Tante?
Was, wenn sich Franklin nicht daran erinnerte, dass er sie gebeten hatte, zu
kommen? Was, wenn er sich überhaupt nicht an sie erinnerte? Eine ganze Bande
Kinder mit schmutzigen Gesichtern lief an ihr vorbei, und sie spürte, wie eines
von ihnen an ihrem Bündel zerrte. Erschrocken presste sie es enger an sich.
Ihre Beine waren steif vor Angst, als
Sadima lange Zeit vor der Eingangstür stand und sich nicht traute, sie zu
berühren. Die Holzplanken reichten so hoch, dass sie nicht dahinterschauen
konnte, bis sie den Mut fand, die Hand dagegenzudrücken. Sie schwang nach innen
auf, gab den Blick jedoch nicht in ein Zimmer frei, sondern in einen breiten
Flur. Sadima trat ein und wollte nach der Hausherrin rufen, als sie eine Tür zu
ihrer Rechten bemerkte, die fest geschlossen war, und eine Treppe am Ende des
Ganges. Auf Zehenspitzen schlich sie an der Tür vorbei.
Der Treppenaufgang war wunderschön. Das
schmiedeeiserne Geländer war so gearbeitet, dass es aussah, als rankten sich
Rosen an einem Gitter empor. Die schmalen Stufen wanden sich in einer Spirale
nach oben. Im zweiten Stockwerk zögerte sie und sah hinab. Sie war schon auf
höhere Bäume geklettert, aber nur wenige Male, und dabei hatte sie sich an
starken Asten festklammern können, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Es
war beunruhigend, im Innern eines Hauses so weit vom Boden entfernt zu sein.
Als sie ihren Weg fortsetzte, wurde der Klang ihrer Schritte von den
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