Die Gabe der Magie
wirst einen Lichtblitz sehen, und dann erscheint das Essen.
Ich verspreche es dir.«
Einen langen Augenblick später trat er
einen Schritt auf den Stein zu und presste die Hände darauf. Kurz darauf
blitzte es, und eine Zinnschale mit Fischeintopf stand auf dem schwarzen Stein.
Mit einem Satz war Gerrard bei ihr. Er
benutzte seine Ärmel, um seine Hände vor der Hitze zu schützen, stellte die Schale
auf den Tisch und pustete hinein. Als er sie schließlich an den Mund setzte,
war ich mir sicher, dass er sich verbrühte, aber er trank trotzdem einen
Schluck und blies dann wieder hinein.
Rasch lief ich ebenfalls zu dem Stein und
schloss die Augen, als ich ihn erreicht hatte. Ich stellte mir das silberne
Besteck meiner Mutter vor, auf das sie so stolz war, und ich rief mir die sanft
geschwungenen, fein verzierten Löffel ins Gedächtnis, die schon der Großmutter
meiner Mutter gehört hatten. Das Besteck reichte für zweihundert Leute, und
zweimal im Monat ließ sie die Hausangestellten die Stücke zählen, um sicherzugehen,
dass nichts gestohlen worden war. Ich hatte mit den einzelnen Teilen gespielt,
seitdem ich alt genug war, um in die Küche zu krabbeln. Celia hatte mich die
Eier in den Teig rühren lassen, mit dem sie ihre Klöße buk, aber ich zwang
meine Gedanken, einzig bei dem Löffel zu bleiben. Als ich ihn ganz klar und deutlich
vor mir sehen konnte, streckte ich die Hände aus. Ein Licht blitzte auf.
Dann griff ich nach dem Löffel und brachte
ihn zu Gerrard. Er dankte mir, und seine Augen waren glasig, als er die Suppe umrührte, während er hineinblies. Ich ging zurück zum Stein
und versuchte, ein gebratenes Hähnchen entstehen zu lassen, was nicht klappte.
Aber es gelang mir, auch für mich eine Suppe zu erschaffen. Natürlich war es
eine dampfende Ochsenschwanzsuppe, wie Celia sie zubereitete. Ich nahm die Schüssel
und einen Löffel für mich zum Tisch und setzte mich Gerrard gegenüber. Dieser
verspeiste seine erste Portion Suppe sehr schnell, dann ließ er eine weitere
erscheinen. Ich selbst aß langsamer. Unsere Blicke kreuzten sich, als er schließlich
aufsah. »Danke, Hahp«, flüsterte er.
Ich nickte und sah an ihm vorbei zum
Eingang.
Verdammt.
Ehe ich Gerrard warnen konnte, stand
Somiss neben dem Tisch und starrte uns an. Er legte seinen Kopf schräg und
hielt den Blick auf Gerrards Hand geheftet. Dann stieß er einen verächtlichen
Laut aus und verschwand.
Gerrard hielt den Silberlöffel empor und
wedelte ihn in meine Richtung. »Er weiß, dass ich niemals etwas Derartiges
entstehen lassen könnte. Er weiß es.«
35
BIST DU SO WEIT?«, FLÜSTERTE FRANKLIN, ALS ER IHR AUF DEM FLUR ENTGEGENKAM . »ICH
KANN IHN IN seinem Zimmer auf und ab laufen hören.«
Sadima nickte. Somiss hatte neun Tage in
Folge ein wenig zum Frühstück gegessen. Franklin ebenfalls. Das war nicht
genug, und beide waren viel zu dünn. Somiss jedoch war überzeugt davon, dass er
schneller und besser als je zuvor arbeitete und dass der Hunger irgendwie
seinen Verstand schärfte. Sadima kam das verrückt vor. Wenn Hunger die Menschen
klüger machte, würden die Straßenjungen denn dann nicht einen Weg finden, wie sie
leben konnten, ohne betteln und stehlen zu müssen?
Sadima beobachtete Franklin, wie er die
Päckchen mit der Verpflegung durchsuchte, die sie zusammengestellt hatte, und
sie zum zehnten Mal neu in seinem Tragesack stapelte. »Hol deine Farben«, sagte
er. Sein Gesicht war voller Begeisterung, und seine Augen leuchteten. Dann ging
er zum Schrank und kam mit vier Blättern Papier zurück – nicht jenen, die sie
benutzten, um Lieder und Reime aufzuschreiben. Diese hier waren steif, und die
Oberfläche hatte eine Struktur wie Stoff. Erstaunt blickte Sadima zu ihm auf.
Er lächelte. »Ich habe die Künstler auf dem Marktplatz gefragt, was ich kaufen
soll.«
Sadima gab ihm einen raschen Kuss, und
zwar so unvermittelt, dass ihm keine Zeit mehr blieb, einen Schritt
zurückzutreten oder sich Sorgen zu machen, dass Somiss etwas sehen könnte. Sie
holte das schmale Kästchen mit ihren Pinseln und Farben und band vier schlanke
Hölzer vom Zunder zu einem quadratischen Rahmen zusammen, den sie in ihr Bündel
packte, damit das Papier nicht knickte.
»Somiss?«, rief Franklin den Flur
hinunter. Ein wortloser Ruf war die Antwort. Franklin lief zu der kleinen Tür,
die zum Balkon hinausging, und öffnete sie. Sadima sah einen sehr blauen
Streifen Himmel. Gemeinsam standen sie und Franklin einige Zeit da
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