Die Gabe der Magie
und
hinter der Kutsche, die Augen auf die Menge geheftet, die Schwerter halb
gezogen. Hinter dem König kamen die Königin und der Kronprinz, ein dünner Junge
von ungefähr zehn Jahren mit dunklem Haar und langen Beinen. Die Königin war
jung und wunderschön; ihr Kleid hatte die Farbe des Vollmondes. Ihre Ärmel
waren riesig und pufften sich an den Schultern, doch an den Unterarmen lagen
sie eng an.
Der Prinz stand und winkte, während er
sich auf einen Stock stützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Lahmt der Prinz?«, fragte sie Franklin
über die Schulter hinweg.
»Man sagt, er hatte einen Unfall«,
antwortete er. »Ein Pferd, auf dem er ritt, stürzte und begrub sein rechtes
Bein unter sich. Aber er humpelte schon als Kleinkind, sagt Somiss. Er ist
freundlich und schlichten Gemüts, was die Mitglieder der königlichen Familie
sehr bekümmert. Die ehemalige Königin hat überhaupt keine Kinder zur Welt
gebracht, und diese neue nur ein einziges. Wenn sie keinen Sohn bekommt, der
auf den Thron folgen kann, dann wird es Kämpfe und Intrigen geben … Somiss’
Mutter wird auf jeden Fall versuchen, ihren eigenen Jungen in eine gute
Position zu bringen.«
Sadima blinzelte und drehte sich zu
Franklin um. »Somiss könnte König werden?«
Franklin zuckte die Schultern. »Er hätte
ebenso gute Chancen wie zehn oder fünfzehn andere.«
Sadima schaute wieder auf die Straße.
Unmittelbar hinter der Königin schien die Prozession der königlichen Familie zu
beginnen. Sie alle fuhren in prachtvollen Kutschen mit Holzintarsien,
farbenfrohen Bemalungen oder silbernen Beschlägen. Die Decken der Pferde
glänzten, und ihre Hufe waren geölt und poliert.
Und erst die Kleidung. Nicht nur die der
Frauen, sondern auch die der Männer. Sadima hätte sich nie träumen lassen, dass
es auf der Welt so viel Samt und Seide gab. Die Farben waren tief und satt, und
sie entdeckte Dunkelgrün, Rot und Blau. Hatten die Töne etwas zu bedeuten?
Sadima drehte sich um und wollte Franklin
danach fragen, doch in diesem Augenblick sah sie ein Gesicht, das zu ihr
emporgewandt war. Somiss. Sie erstarrte. Er schaute zu ihr hoch, und in seinen
Augen lag Zorn. Mit dem Kopf machte er eine knappe Bewegung zur Seite und hob
eine Faust. Sadima wich zurück und verschwand außer Sicht.
»Hast du genug königlichen Pomp und
Zeremonien für einen Abend gehabt?«, fragte Franklin, als sie in die Wohnung
zurückkam. Er lächelte. Sie lächelte zurück und wusste, dass sie ihm alles
erzählen konnte, aber sie tat es nicht. Stattdessen machte sie sich wieder an
die Arbeit und hoffte, dass Somiss am nächsten Morgen nicht zu böse auf sie
sein würde.
46
NACH FRANKLINS UNTERRICHT GING ICH IN DEN
SPEISESAAL. MEINE BEINE UND ARME FÜHLTEN SICH schwer
an und bewegten sich nur langsam. Das machte mir Angst. Wurde ich krank? Als
ich im Saal ankam, entdeckte ich Gerrard, der über eine Zinnschale mit
Fischeintopf gebeugt dasaß und einen schlichten Zinnlöffel benutzte. Ich
starrte ihn einen Augenblick lang an, ehe ich mich umdrehte und wieder gehen
wollte. Doch ich hielt inne.
Seit Somiss den silbernen Löffel bemerkt
hatte, achteten Gerrard und ich darauf, nicht zur selben Zeit im Speisesaal zu
sein. Aber da Somiss bislang keinen von uns beiden bestraft hatte, gab es auch
keinen Grund anzunehmen, dass das noch geschehen würde. Und ich wollte etwas zu
Abend essen. Essen war wie Schlafen: Beides fühlte sich gut an.
Ich ging zum Stein und sah, wie Gerrard
eine Seite in dem Buch umblätterte, das er las. Er sah nicht zu mir auf.
Entweder war es ihm egal, ob ich hier war, oder er war so in seine Studien
vertieft, dass er mich gar nicht bemerkt hatte.
Ich beschloss, Pfannkuchen erscheinen zu
lassen – Gerrard hatte bereits gesehen, wie ich welche erschuf, und würde nicht
… was? So neidisch sein, als wenn ich vor seinen Augen Räucherschinken, Butterbohnen
und frische Orangen entstehen ließe, während er seine hundertste Schale
Fischeintopf aß? Die Wahrheit war: Ich wollte nicht, dass er auf mich böse war,
wenn es sich vermeiden ließ. Also konzentrierte ich meine Gedanken auf Pfannkuchen,
trat einen Schritt nach vorne und berührte den Stein.
Und nichts geschah.
Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn,
und ich hörte Gerrard lachen. Aber als ich herumwirbelte, um ihm zu sagen, er
solle den Mund halten, las er noch immer. Hatte ich es mir eingebildet? Ich
drehte mich zum Stein und versuchte es erneut. Nichts. Dann vernahm ich wieder
ein
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