Die Gabe der Magie
Gelächter. Aber Gerrard schlürfte seine Suppe und hielt die Augen auf sein
Buch gerichtet.
In plötzlicher Panik wurden meine Knie
weich. Ich lief einmal rings um den großen Saal und spähte in die Schatten
zwischen den Fackeln. Niemand war dort, und Gerrard saß noch immer am Tisch und
las, als wäre ich unsichtbar oder als wäre ich überhaupt nicht da. Hatte Somiss
dafür gesorgt, dass der Stein bei mir nicht mehr funktionierte? War er dazu
fähig? War das die Strafe dafür, dass ich für Gerrard einen Löffel
herbeigewünscht hatte? Ich zwang mich, zum Stein zurückzugehen. Schwitzend und
mit zitternden Knien stellte ich mir taunasse Äpfel vor, mich selbst zwischen den
Obstbäumen verborgen, eifrig und aufgeregt, weil ich gleich Magie sehen würde.
Dann berührte ich den Stein.
Ein Korb Äpfel erschien.
Ich lehnte mich gegen das Podest und
stützte die Handflächen auf den kalten Stein. Tränen traten mir in die Augen, und ich war ganz benommen vor Erleichterung. Dann erinnerte ich
mich an Gerrard und drehte mich herum, um ihm einen Blick zuzuwerfen. Noch
immer war er ins Lesen vertieft. Zittrig entschied ich mich, später wiederzukommen.
Drei Apfel legte ich beiseite, dann stellte ich den Korb auf den Boden und sah
zu, wie er funkelte und verschwand. Ich hob die drei Äpfel auf und lief zurück
in unser Zimmer. Die Tür klang furchtbar laut, als ich sie schloss. Ich setzte
mich auf den Rand meines Bettes und wiegte mich vor und zurück, während ich
versuchte, mich zu beruhigen. In meinem Schädel tobte ein Widerstreit.
Was würde geschehen, wenn ich nun wieder
nur Apfel erscheinen lassen könnte? Was, wenn ich nicht einmal diese mehr
erschaffen würde? Bilder der verhungernden Jungen drängten sich in meine
Gedanken, und ich sah sie mit trüben Augen dahinschlurfen. Wenn ich den Stein
nicht dazu bringen konnte, etwas Essbares für mich hervorzubringen, dann würde
ich verhungern. Nein. Würde ich nicht. Ich konnte Essen heraufbeschwören. Es hatte
eben nur deshalb nicht geklappt, weil ich wegen Gerrards Anwesenheit nervös
war. Das war alles. Ich sorgte mich ganz ohne
Grund. Schließlich hatte ich die Äpfel entstehen lassen, und ich würde später zurückkehren
und essen.
Einen Augenblick lang gaben meine Gedanken
Ruhe, und die Stille war wunderbar. Aber sie dauerte nicht an. Wer hatte
gelacht? Franklin? Ich hatte mir schon früher vorgestellt, wie er mit mir
sprach und Dinge sagte, die gar nicht möglich waren und keinen Sinn ergaben.
Ich holte tief Luft. Nein, ich hatte mir nur dummes Zeug eingebildet. Franklin
hatte mir einen Streich gespielt, sodass ich nun Dinge sah und hörte. Es war
eine Art seltsamer Magie. Vielleicht.
Vielleicht wurde ich aber auch einfach
verrückt.
Auf meinen Armen stellten sich die Härchen
auf, dann auf meinem Kopf. Ich beugte mich vor und versuchte, mich nicht zu
übergeben. Ich hatte es so satt, immerzu Angst zu haben. Vielleicht hatten wir
das Schlimmste bereits überstanden. Vielleicht würde diese Schule jetzt eher
wie jede andere sein. »Aber vielleicht war das bislang auch nur der einfache
Teil«, sagte ich laut.
Der Klang meiner eigenen Stimme ließ mich
zusammenfahren. Es war lange her, dass ich sie zum letzten Mal gehört hatte.
War das gewesen, ehe die Jungen verhungerten? Wieder sah ich ihre Gesichter,
stand auf und atmete im ersten Muster.
Nach langer Zeit begann ich mich zu
beruhigen. Ich fürchtete mich einfach nur, und ich hatte jedes Recht, Angst zu
haben. Ich wurde nicht verrückt. Und ich würde das durchstehen. Wenn ich härter
arbeitete und …
Und da hörte ich das Lachen hinter mir.
Lauter dieses Mal.
Ich wirbelte herum.
Niemand war dort.
Ich rannte los.
Rannte den ganzen Weg bis zum Speisesaal.
Gerrard saß noch immer am Tisch und las. Er hob den Blick, als ich eintrat, und
starrte mich an, als ich mich ihm näherte. »Ich habe jemanden lachen hören«,
sprach ich es aus, ohne vorher zu wissen, was ich sagen würde.
»Erst hier, dann in unserem Zimmer. Jemand
lachte.« Dann schloss ich die Lippen und wartete darauf, dass er mich schlagen
oder mir drohen würde …
Aber er nickte. »Ich
auch«, hauchte er, und seine Zäh ne blieben dabei fest zusammengebissen, seine Lippen bewegten sich
kaum. Nach einer Pause fügte er ein Wort hinzu: »Danke.« Mit einer knappen Geste
bedeutete er mir, ich solle verschwinden, um keinen von uns weiterer Gefahr
auszusetzen.
Ich lief an ihm vorbei, kämpfte gegen die
Tränen und war so froh. Ich hatte es
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