Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
sein!«
Lucas wurde vom Zusehen fast schwindlig. Dann blieb sie abrupt vor ihm stehen, fuhr sich über den Bauch und verkündete in gefährlich gedämpftem Ton: »Du irrst dich, Lucas. Ich habe in letzter Zeit einfach zu viel gegessen und war von reichlich Aufregung umgeben. Das ist alles.«
Lucas zog sie sanft auf das Bett zurück.
»Nein, Ezra«, sagte er leise, »du hast in den letzten Tagen so gut wie nichts gegessen. Du musst endlich etwas zu dir nehmen. Sonst schadest du unserem Kind.«
»Du klingst wie ein Vater, der sich auf sein Kind freut«, fauchte sie.
»Das tue ich auch.«
»Bist du noch bei Sinnen? Wir wollen eine Kuppel bauen, Lucas! Das ist unmöglich, wenn unser Kind hier zur Welt kommt … «
Erschöpft brach sie ab. Jetzt, da sie selbst die Wahrheit ausgesprochen hatte, musste sie sich ihr stellen und Allahs Willen endlich anerkennen. Weshalb nur erlegte ihr der Barmherzige eine solche Prüfung auf? War das die endgültige Strafe für ihre ungeheuerliche Anmaßung? Würde ihr ganzes Leben jetzt so in sich zusammenbrechen wie die erste Kuppel der Hagia Sophia nach dem großen Erdbeben in Konstantinopel? Sie raufte sich das Haar und begann zu weinen.
»Ein Kind ohne Zukunft!«, schluchzte sie, »dessen Mutter mittellos vom Hof gejagt werden wird. Hast du denn vergessen, was der Kaiser mir gesagt hat?«
»Und du vergisst, dass du nicht allein bist, Ezra, dass dieses Kind einen Vater haben wird, der ihm eine Zukunft geben kann und möchte.«
Seine Stimme klang bestimmt und freundlich. Sie wurde geradezu fröhlich, als er ihr Vorschläge unterbreitete: Er könne im Wald eine Hütte bauen, um dort seine kleine Familie zu verstecken; er wolle mit ihr aus Aachen fliehen, sogar bis nach Bagdad, wenn sie dorthin zurückzukehren wünsche; er erklärte sich bereit, mit ihr und dem Kind in irgendeine Fremde zu ziehen, um sich fern des fränkischen Hofes als Zimmermann, Schmied oder in einem anderen Handwerk als Hilfskraft zu verdingen. Vielleicht könne er gar als Baumeister irgendwo in der Weite des Oströmischen Reiches seiner erlernten Arbeit nachgehen.
Sie lauschte seiner tröstlich heiteren Stimme wie den Märchenerzählern ihrer Kindheit. Aus Liebe zu einer Prinzessin nahm der Held große Beschwernisse auf sich, um das Unglück abzuwenden, das ein böser Dschinni über das arme, unschuldige Mädchen verhängt hatte. Und zum Schluss roch es nach Myrrhe, es regnete Rosen, die Prinzessin trug wieder schöne Kleider, und alles wurde gut. Ezra brauchte sich nur ihrer Bestimmung als Frau hinzugeben und das gemeinsame Kind großzuziehen, während ihr Mann für Brot und Obdach sorgte. Aber wozu hatte ihr Allah dann die große Gabe verliehen und so wichtige Träume geschickt? Es war Zeit, Lucas an den Auftrag zu erinnern, der sie einst nach Aachen geführt und ihren Vater das Leben gekostet hatte.
»Du lebst im falschen Traum«, wehrte sie ungeduldig seine Liebkosung ab und fragte: »Was wird aus unserer Kuppel?«
»Die soll mein Vater bauen«, flüsterte Lucas fast unhörbar.
»Dein Vater!«, rief sie. »Der sich dieser Kuppel von Beginn an widersetzt hat, da er nicht daran glaubt, dass sie in dieser Höhe und Weite einzuwölben ist!«
»Vielleicht hat er ja recht«, murmelte Lucas.
»Nein, Lucas, wir dürfen nicht aufgeben. Kaiser Karl wird sich nie mit diesem hässlichen Holzdach abfinden! Und deinen Vater für sein Versagen und für unsere Verfehlungen bestrafen! Das können wir nicht zulassen.«
Sie streichelte seine Hände, die zwar sehr geschickt mit Zwölfknotenschnur, Zirkel und Stift umgehen konnten, denen aber schwere körperliche Arbeit ebenso fremd war wie ihr die Vorstellung, sich ausschließlich einem Leben als Ehefrau und Mutter zu widmen.
»Du hast recht«, sagte Lucas. »Wir dürfen uns nicht unerlaubt vom Hof entfernen. Dann wird Kaiser Karl zweifellos die richtigen Schlüsse und meinen Vater zur Rechenschaft ziehen.« Odo bekäme den Ingrimm des Herrschers zu spüren, der niemals glauben würde, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, den alten Baumeister jahrelang über Ezras wirkliches Wesen zu täuschen.
Dazu war keine sonderliche Verstellung erforderlich gewesen, da Odo seit dem Tod seiner Gemahlin mit Frauen nichts mehr zu tun gehabt und sie aus seiner Wahrnehmung gänzlich verbannt hatte. Zwar hatte er sich einst damit abfinden müssen, mit Frau Dunja unter einem Dach zu leben, sie als Weib jedoch hinfort kaum zur Kenntnis genommen. Hätte ihm Ezra je gestanden, wer
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