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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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war, hatte jeder Laden seinen Lichterschmuck eingeschaltet, um die Blicke der zahlreichen Passanten auf sich zu ziehen, und alle Figurenmacher hatten auf der Straße ihre schönsten Werke ausgestellt – ein buntes Schauspiel, das bezauberte und entzückte.
    Maione allerdings hatte keine Augen für die Ware der Händler, sondern dachte über das nach, was er zu tun beabsichtigte.
    Er war zu der Überzeugung gelangt, dass der junge Mann ihn nicht wiedererkennen würde. Zu den Verhandlungen vor Gericht war der Brigadiere in Zivil erschienen und im Hintergrund geblieben, hatte sich unter die Menge der Schaulustigen gemischt. Noch nach fast vier Jahren erinnerte er sich gut daran, dass er sich auf merkwürdige Weise unbeteiligt gefühlt hatte, als ob die ganze Sache ihn nichts anginge.
    Jetzt, nach so langer Zeit, würde der Mörder seines Sohnes ihn in Uniform nicht erkennen, selbst wenn er ihn sehen würde. Er wollte bloß wissen, wo er arbeitete. Maione glaubte, dass es nicht weit weg von seiner Wohnung sein dürfte, aber natürlich konnte er da auch falschliegen. Vielleicht arbeitete Biagio im Stahlwerk von Bagnoli oder auf irgendeiner Baustelle am
Vomero, was weitere Ermittlungen notwendig gemacht hätte, vielleicht auch noch einen Besuch bei Bambinella.
    Gerade als er sich das durch den Kopf gehen ließ, sah er ihn. Über einen kleinen Tisch gebeugt saß er im Eingang von einem der größten Figurenmacherläden und war damit beschäftigt, das Gesicht einer Holzfigur mit einem kleinen Spachtel zu modellieren. Maione wurde in dem ganzen Gedränge auf ihn aufmerksam, weil sich um ihn herum mehrere Leute versammelt hatten, die ihm verzückt bei der Arbeit zusahen.
    Er trat zu der Gruppe, blieb aber hinter den anderen. Seine Köpergröße erlaubte es ihm, über die Neugierigen hinwegzublicken. Der junge Mann hielt den Kopf gesenkt und wirkte so abwesend, als sei er völlig allein. Er verlieh einem Gesicht den Feinschliff, einem Köpfchen, wie man sagte. Es gehörte zu einer alten Frau mit zum Knoten gebundenen Haaren, hohlen Wangen, aufgerissenen, ein wenig vorstehenden Augen.
    Der Junge war sehr geschickt. Seine schroffen Bewegungen ließen ein menschliches Antlitz entstehen, das Staunen und Überraschung ausdrückte. Auf dem Tischchen lagen zwei Hände mit krummen Fingern, angespannt, als hielten sie etwas fest. Sie waren noch nicht bemalt, vermittelten aber schon jetzt den Eindruck vollkommener Lebendigkeit. Zum Schluss würden Kopf und Hände nach uralter Art an einem Körper aus Draht und Werg befestigt werden, der ein spitzenbesetztes Seidenkleid erhielt.
    Maione bemerkte, dass der Junge, konzentriert und in gebückter Haltung, mit der linken Hand arbeitete. Schmerzvoll erinnerte er sich an den Polizeibericht zu Lucas Ermordung, in dem von einer einzigen tödlichen Verletzung unterhalb des linken Schulterblatts die Rede gewesen war. Ein Linkshänder,
und der verurteilte Bruder war Rechtshänder gewesen. Es war niemandem aufgefallen. Er hatte gestanden, warum hätte man noch weiterforschen sollen? Auch Maione hatte damals keinerlei Verdacht geschöpft.
    Der Gedanke riss ihn aus seinem Staunen darüber, aus einem Stück Holz das Gesicht einer Frau entstehen zu sehen, und führte ihn brüsk zum Grund seiner Anwesenheit zurück. Er ging ein paar Schritte zurück, nahm eine Tonkuh vom Verkaufsstand und ging damit zum Besitzer des Ladens, der zufrieden hinter der Kasse stand.
    – Guten Tag. Ganz schön was los heute, was?
    Der Mann beäugte argwöhnisch Maiones Uniform, lächelte aber freundlich.
    – Stimmt, Brigadiere, wenigstens in der Vorweihnachtswoche kommen ein paar Leute her. Die meisten wollen bloß schauen, denn die schönen Dinge haben ihren Preis, man sieht gern zu, kauft dann aber die günstigeren Figuren.
    Maione täuschte Anteilnahme vor.
    – Gewiss, das Geld ist knapp heutzutage. Die Leute kaufen lieber was zu essen.
    Der Ladenbesitzer wollte seinen Berufsstand verteidigen.
    – Das verstehe ich. Aber was wäre Weihnachten ohne Krippe? Wir leben davon, zugegeben. Aber die Tradition der Stadt will es, dass es in jedem Haus, auch im allerärmsten, zumindest die Heilige Familie gibt. Klar laufen die Läden besser, die billiges Zeug produzieren, diesen Ramsch aus Ton, mehr schlecht als recht bemalt. Was wir herstellen, sind Kunstwerke.
    Maione lenkte das Gespräch dahin, wo er es haben wollte:
    – Ja wirklich, Sie haben wunderschöne Sachen. Der Junge da hinten zum Beispiel, der die alte Frau schnitzt,

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