Die Gabe des Commissario Ricciardi
Schreibtisch und zwei Stühle nahmen das kleine Zimmer fast vollständig ein; es wurde für Gespräche mit den Gläubigen genutzt, die keine eigentliche Beichte, aber doch vertraulich waren.
Ein wenig verkrampft nahm Enrica Platz. Sie suchte nach der richtigen Art, ihr Anliegen vorzubringen, doch Don Pierino war ihr nicht vertraut genug, dass sie sofort darauf zu spre
chen kommen konnte. Der Pfarrer wusste, dass er ihr helfen musste, ihre Schüchternheit zu überwinden.
– Nun, wie geht's Ihrer Familie, sind alle wohlauf? Wie weit sind Sie mit den Weihnachtsvorbereitungen? Haben Sie eine Krippe? Wissen Sie schon, was Sie kochen werden?
Mit diesen belanglosen Themen wollte er ihr die Befangenheit nehmen. Enrica verstand das und war ihm dankbar dafür.
– Um die Krippe kümmert sich mein Vater. Da lässt er sonst niemanden ran. Meine kleinen Brüder dürfen zuschauen und er tut so, als ließe er sich ein bisschen helfen. Wir Frauen sind ganz mit dem Essen beschäftigt, das ist vielleicht eine Arbeit. Aber es macht auch Spaß.
Don Pierino nahm seine übliche Haltung an, die Hände über dem Bauch gefaltet.
– Und Ihre seelische Verfassung? Wie fühlen Sie sich? Sind Sie fröhlich, unbeschwert, mit sich im Reinen?
Da wären wir beim Thema, dachte Enrica.
– Wo Sie es schon ansprechen – eigentlich nicht besonders. Ich hatte das Bedürfnis, mit Ihnen zu reden. Vielleicht können Sie … mir etwas erklären und mir einen Rat geben.
Der Priester nickte ernst.
– Dafür bin ich da. Um Ihnen dabei zu helfen, Ihren inneren Frieden zu finden. Nur dafür.
– Ich weiß. Dann erzähle ich Ihnen eine kleine Geschichte, wenn Sie Zeit haben.
– Ich höre.
Und Enrica erzählte.
Sie beschrieb das Entstehen eines Gefühls, das im Laufe von Wochen, Monaten und Jahreszeiten – durch geschlossene Fens
ter im Winter und geöffnete Fenster im Sommer – immer stärker geworden war. Erzählte von Stickereien, die sie in langen Nächten bedächtig im Schein eines Lampenschirms und zum Klang der Tanzlieder aus dem Radio angefertigt hatte. Von einer Gestalt, die in fünf Metern Entfernung ein Stockwerk höher mit verschränkten Armen im Halbdunkel stand, und davon, wie schwierig diese Entfernung wegen all der gesellschaftlichen Konventionen, die das Leben der Leute vergifteten, zu überbrücken war.
Sie sprach auch von zwei flüchtigen Begegnungen, einer in der Nähe eines Gemüsestands, von zwei verzweifelten grünen Augen und einer überstürzten Flucht, bei der bloß eine Brokkolispur zurückblieb, und einer anderen, die sie nur vage beschrieb, die mit seiner Arbeit zu tun hatte und im Beisein einer zweiten Person stattfand, mit der sie am Ende einige Worte wechselte, während er sie ansah, als würde er ertrinken, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen.
Schließlich erwähnte sie zwei unbeholfene, förmliche, doch immer wieder gelesene Briefe, der eine mit der absurden Bitte um die Erlaubnis, sie zu grüßen, und ihre Antwort, in der sie ihm dies sehr gern gewährte.
Dann schwieg sie, mit gesenktem Blick und wohl wissend, dass sie während des Gesprächs – sie hätte nicht sagen können, wann genau – aus ihrer Tasche ein Taschentuch geholt hatte, das sie wieder und wieder zerknüllte.
Don Pierino hatte ihr ruhig zugehört und an ihrer Erzählung durch ein sehr differenziertes und ausdrucksstarkes Mienenspiel Anteil genommen. Er ahnte, dass es sich nicht um eine simple Liebesgeschichte handelte, und wartete auf die Fortsetzung.
Als Enrica erneut zu sprechen begann, war ihr Ton anders, sorgenvoller und weniger suggestiv, geworden.
Sie erzählte von ihrem Glücksgefühl, als sie glaubte, dass sie sich nun bald treffen und das Eis schmelzen würde, davon, wie sie sich gegenüber ihrer Mutter, die sie durch ein arrangiertes Treffen mit einem anderen Mann zusammenbringen wollte, ausnahmsweise durchgesetzt hatte. Und von ihrem Kontakt zu jemandem aus seiner Familie, einer freundlichen und entschlossenen alten Kinderfrau, die ihr wohlgesinnt war. Sie erwähnte auch kurz die geheimnisvolle, attraktive Fremde, die sie mit ihm zusammen gesehen hatte, fügte aber sofort hinzu, das Verhalten des Mannes gegenüber jener Frau sei ihr nicht besonders interessiert und liebevoll erschienen.
Schließlich atmete sie tief ein und sprach von dem Unfall. Vom Krankenhaus, von der furchtbaren Anspannung, als sie geglaubt hatte, er sei tot. Von den bleichen Gesichtern der wenigen Anwesenden, der Kinderfrau, jener Dame,
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