Die Gabe des Commissario Ricciardi
reden. Das ist im Moment das einzig Sichere, was wir in der Hand haben, was, Commissario?
Ricciardi nickte, er lief mit gesenktem Kopf.
– Ja, der Besuch der Boccias. Sie waren zu zweit; das wäre zumindest eine Erklärung für die beiden Hände, die den Zenturio laut Modo getötet haben. Er meinte allerdings, dass die »schwächere« Hand, die Garofalo die leichteren Wunden beigebracht hat, eine linke Hand gewesen sei, und ich hatte den Eindruck, dass Signora Boccia Rechtshänderin ist. Aber das will nichts heißen. Lomunno zum Beispiel hätte auch jemanden mitgebracht haben können.
Maione stimmte ihm zu.
– Und unser Freund Ferro könnte im Rausch eine Dummheit begangen haben, an die er sich gar nicht erinnert. Es kann alles und nichts sein. Ach herrje, unser Job ist manchmal wirklich zum Kotzen.
Sie liefen am Strand entlang, zu ihrer Linken die Straße, auf der Autos und Kutschen fuhren, und rechts das Meer. Es waren nur wenige Fußgänger unterwegs und die paar, die man sah, kauerten sich vor Kälte zusammen.
Auf dem Sand standen in kleinen Gruppen die Fischer ohne Boot zusammen. Gerade wurden die Netze ausgebracht, was zu dieser Zeit des Jahres zweimal täglich geschah.
Kleine Boote mit nur einem Ruder fuhren ein paar hundert Meter hinaus, wobei sie ein Ende des Netzes an Land ließen, und warfen das große Flechtwerk aus, das die Frauen früh morgens und abends flickten, indem sie die Löcher schlossen, die die Strömung hineingerissen hatte. Waren die Netze ein
mal ausgeworfen, kehrten die kleinen Boote zurück ans Land und die Fischer rollten die Taue auf dem Bürgersteig vor dem Strand aus. Darauf hakten die Männer, barfuß und mit bis zum Knie heraufgekrempelten Hosen, die Taue der Netze an einen Tragriemen aus Leinen und begannen, in Gruppen von vier oder fünf Mann pro Seite, zuerst das Tau und dann das Netz nach hinten zu ziehen, indem sie entlang der Strandpromenade rückwärtsgingen und so das Netz ans Ufer zogen: Sein Inhalt trug dann hoffentlich dazu bei, dass ihre Familien einen weiteren Tag überleben konnten. Während die Männer zogen, wickelten die Kinder die Taue am Strand zu großen Rollen auf.
Zu anderen Zeiten, wenn die Geschäfte nicht so vielversprechend waren wie an Weihnachten, wurde die beschwerliche Arbeit nur morgens getan. Aber nun stand bereits eine Gruppe potentieller Käufer auf der Suche nach günstigem Fisch, der nicht durch die Hand von Groß- und Einzelhändlern ging und dadurch verteuert wurde, wartend auf der Straße zusammen, und die Anstrengung versprach sich zu lohnen.
Maione ging etwas langsamer.
– Die rackern sich wirklich ganz schön ab, die Fischer. Die da unten fischen vom Strand aus, sehn Sie nur, Commissario, bei der Kälte barfuß im Wasser, die haben doch schon Frostbeulen an den Beinen.
Ricciardi gab ihm recht.
– Ja, ein hartes Leben. Auch für die, die mit dem Boot rausfahren, so wie Boccia, muss es schrecklich sein. Und dann kommt einer wie Garofalo und presst dich aus, bis du nicht mehr kannst.
Sie waren nun auf der Höhe des Fischerviertels angelangt,
unter dem riesigen, dunklen Kastell. Ricciardi gab Maione ein Zeichen:
– Trennen wir uns hier. Du gehst zu Boccias Kameraden, die um diese Uhrzeit vom Meer zurückkommen. Ich laufe zum Hafen, um herauszufinden, wie Lomunno am Tag des Mordes seinen Vormittag verbracht hat. Danach geh aber gleich nach Hause, du brauchst nicht wieder ins Präsidium. Die Berichte schreiben wir morgen, falls es was Neues gibt.
Maione nickte.
– Wie Sie befehlen, Commissario. In zwei Tagen ist schon Heiligabend. Weihnachten ist da.
– Ja, es ist da. Und wir sind noch weit vom Ziel entfernt, fürchte ich. Viel Glück.
Es ist schon Weihnachten.
Rosa dachte daran wie üblich mit gemischten Gefühlen: Sie war unruhig wegen der Hausarbeiten, die noch zu erledigen waren, freute sich aufs Fest und machte sich andererseits Sorgen wegen des zu Ende gehenden und des bald neu beginnenden Jahres.
Das Essen für Heiligabend musste natürlich vorbereitet werden. Auch wenn sie nur zu zweit waren, legte sie doch Wert darauf, die Bräuche aus ihrer Heimat aufrechtzuerhalten. In dieser chaotischen Stadt, an die sie sich wohl nie ganz gewöhnen würde, sollte wenigstens die Erinnerung an ihre Wurzeln bestehen bleiben.
Die Vorbereitungen waren nicht einfach, denn das Weihnachtszeremoniell des Cilento war ziemlich streng. An Heiligabend hatte es fettarme Kost zu geben: Man aß Scàmmaro, also hausgemachte Spaghetti mit
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