Die Gärten des Mondes
schritt zum Fenster hinüber. »Dann kann man nur hoffen«, meinte er trocken über die Schulter, »dass Ihr und Eure Verbündeten die Abstimmung nicht für Euch entscheidet.«
Orrs Antwort kam schnell und hitzig. »Nach meiner Zählung haben wir heute Nacht die Mehrheit erreicht, Alchemist. Ihr hättet für den Honig auf der Sahne sorgen können. Nun, was soll's!« Er grinste höhnisch. »Dann werden wir eben mit nur einer Stimme Mehrheit gewinnen. Aber das wird genügen.«
Baruk drehte sich um und sah Orr an, während Roald leise den Raum betrat, den Umhang des Ratsherrn in der Hand.
Scharteke streckte sich auf ihrem Vorleger. »In einer solchen Nacht der Nächte Myriaden von Schicksalen mit Worten wie diesen herauszufordern...«, sagte sie in gespieltem Entsetzen und legte den Kopf schief. Ganz schwach, wie aus großer Entfernung, glaubte sie eine Münze sich drehen zu hören.
Von irgendwo aus dem Innern der Stadt war ein Zittern der Macht zu spüren. Scharteke erschauerte.
Rallick Nom wartete. Aus und vorbei mit dem unbeschwerten Leben für Lady Simtal. Noch in dieser Nacht würde die Zeit des Überflusses ein Ende haben. Die beiden Gestalten wandten sich von der Brüstung ab und gingen auf die Glastür zu. Rallicks Finger krümmte sich um den Abzug.
Er erstarrte. Ein wirbelndes, klimperndes Geräusch war plötzlich in seinem Kopf, flüsternde Worte, die ihn schweißgebadet zurückließen. Urplötzlich veränderte sich alles. Seine Gedanken rasten. Der Plan einer schnellen Rache fiel in sich zusammen, und aus den Ruinen erwuchs ein neuer, weit... raffinierterer Plan.
All dies war zwischen zwei Atemzügen geschehen. Rallicks Blick klärte sich. Lady Simtal und Ratsherr Lim standen an der Tür. Die Frau streckte die Hand aus, um die Tür zur Seite zu schieben. Rallick schwenkte die Armbrust einen Zoll nach links und drückte den Abzug. Der geschwärzte eiserne Bügel ruckte, als die Spannung sich schlagartig entlud. Der Bolzen schoss so schnell davon, dass er praktisch unsichtbar war, bis er sein Ziel traf.
Eine der beiden Gestalten auf dem Balkon wurde von dem Einschlag herumgewirbelt, taumelte mit ausgestreckten Armen ein, zwei Schritte weiter. Die Glastür zerbarst, als die Gestalt hindurchfiel.
Lady Simtal schrie vor Entsetzen laut auf.
Rallick wartete nicht länger. Er rollte sich auf den Rücken und schob die Armbrust in die schmale Lücke zwischen Sims und Dach. Dann ließ er sich an der Außenseite der Mauer hinuntergleiten, hielt sich noch einen Augenblick mit den Händen fest, während sich innen lautes Geschrei erhob. Einen Augenblick später ließ er los, drehte sich im Flug und landete katzengleich in dem Gässchen.
Der Assassine streckte sich, rückte seinen Umhang zurecht und schritt ruhig davon. Aus und vorbei mit dem unbeschwerten Leben für Lady Simtal. Jedoch auch kein schneller Tod. Ein mächtiges, hoch angesehenes Mitglied des Stadtrats war soeben auf ihrem Balkon ermordet worden. Lims Frau - nunmehr seine Witwe - würde nicht so einfach darüber hinwegsehen. Und das war erst die erste Phase, sagte Rallick zu sich selbst, während er unter Ossercs Tor hindurchging und dann die breite Rampe hinabstieg, die zum Daru-Viertel führte; nur die erste Phase, der Eröffnungszug, ein Hinweis für Lady Simtal, dass die Jagd begonnen hatte - die Jagd, deren Beute sie höchstpersönlich war. Es wird nicht einfach werden. Die Frau ist im Intrigenspiel sehr bewandert.
»Es wird noch mehr Blut fließen«, flüsterte er, als er um eine Ecke bog und auf den schwach beleuchteten Eingang des Phoenix zuschritt. »Aber am Ende wird sie stürzen, und mit ihrem Sturz wird sich ein alter Freund von neuem erheben.« Als er das Gasthaus fast erreicht hatte, trat eine Gestalt aus dem Schatten eines Seitengässchens. Rallick blieb stehen. Die Gestalt gestikulierte und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Rallick folgte ihr. Er musste einen Moment warten, bis sich seine Augen an die Dunkelheit angepasst hatten.
Der Mann vor ihm seufzte. »Deine Fehde hat dir heute Nacht wahrscheinlich das Leben gerettet«, sagte er. Seine Stimme klang bitter.
Rallick lehnte sich an eine Mauer und verschränkte die Arme. »Wieso?«
Clanführer Ozelot trat näher an ihn heran; sein schmales, pockennarbiges Gesicht zeigte den üblichen, finsteren Ausdruck. »Diese Nacht war ein einziges Schlachtfest, Nom. Hast du nichts davon mitbekommen ?«
»Nein.«
Ozelots dünne Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Lächeln.
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