Die Gärten des Mondes
oben auf der ihnen zugewandten Seite gab es einen schmalen Vorsprung, und dort war jetzt eine im Schatten liegende Nische aufgetaucht. Ein Portal. Sonst rührte sich noch nichts. »Er weiß Bescheid«, flüsterte sie.
»Und er läuft nicht weg«, fügte Calot hinzu.
Auf dem vordersten Hügel erhob sich Tayschrenn und streckte die Arme seitlich in die Höhe. Eine Woge aus goldenen Flammen überspannte seine Hände, rollte nach oben und raste Mondbrut entgegen, dabei wuchs sie unaufhörlich. Die magischen Flammen krachten gegen den schwarzen Felsen, ließen Steinbrocken in alle Richtungen spritzen und herabregnen. Ein tödlicher Schauer ergoss sich über Fahl und die malazanischen Soldaten auf der Ebene.
»Es hat angefangen«, sagte Calot. Er atmete schwer.
Abgesehen von dem prasselnden Geräusch, mit dem die Felsstücke auf die Ziegeldächer der Stadt herabregneten, und den Schreien der Verwundeten auf der Ebene, war Stille die einzige Antwort auf Tayschrenns ersten Angriff. Alle Augen waren nach oben gerichtet.
Was dann geschah, hätte niemand erwartet.
Eine schwarze Wolke hüllte Mondbrut ein, und gleichzeitig war ein fernes Kreischen zu hören. Einen Augenblick später begann die Wolke sich auszudehnen und in Einzelteile aufzulösen, und Flickenseel begriff, was sie da sah.
Raben.
Tausende und abertausende Großer Raben. Sie mussten zwischen den hervorstehenden Klippen und in den Höhlen der Festung nisten. Ihre Schreie wurden deutlicher, wurden zu einem schrillen Kreischen der Wut. Sie stiegen von Mondbrut auf; ihre gewaltigen Schwingen mit fünfzehn Fuß Spannbreite trugen sie hoch hinauf über die Stadt und die Ebene.
Die Furcht, die Flickenseel bisher verspürt hatte, verwandelte sich in Entsetzen.
Locke stieß ein bellendes Lachen aus und wirbelte zu ihnen herum. »Die sind die Boten des Mondes, Kameraden!« In seinen Augen glitzerte der Wahnsinn. »Diese Aasfresser!« Er warf seinen Umhang zurück und hob die Arme. »Stellt euch einen Lord vor, der dreißigtausend Große Raben ernähren kann.«
Eine Gestalt war auf dem Vorsprung vor dem Portal erschienen, die Arme hoch erhoben; langes, silbernes Haar wehte im Wind.
Die Mähne des Chaos. Anomander Rake. Der Lord der schwarzhäutigen Tiste Andii, der hunderttausend Winter gesehen, der das Blut von Drachen geschmeckt hat, der auf dem Thron des Leids sitzt, die Letzten seines Volkes führt und ein tragisches, magisches König- reich regiert - ein Königreich, das kein Land sein Eigen nennen kann.
Auf diese Entfernung wirkte Anomander Rake vor dem Hintergrund der fliegenden Festung winzig, fast substanzlos. Doch diese Illusion sollte nicht lange anhalten. Flickenseel keuchte, als die Aura seiner Macht aufblühte. Wenn man es auf diese Entfernung sehen kann ... »Macht eure Gewirre bereit«, befahl sie mit sich überschlagender Stimme. »Jetzt!«
Noch während Rake seine Macht zusammenzog, stiegen vom Hügel in der Mitte zwei blaue Feuerbälle auf. Sie trafen Mondbrut im unteren Viertel und ließen die Festung erbeben. Tayschrenn sandte eine weitere Woge güldener Flammen aus, die sich beim Aufprall in bernsteinfarbene Gischt und Zungen aus rotem Rauch verwandelten.
Der Herr des Mondes antwortete. Eine schwarze, sich windende Woge rollte auf den ersten Hügel herab. Sie zwang den Hohemagier in die Knie, als er sie abwehrte; die tödliche Kraft verwüstete die Hügelkuppe, wälzte sich die Hänge hinab und hüllte die in der Nähe befindlichen Reihen der Soldaten ein. Flickenseel sah, wie ein Mitternachtsblitz die unglücklichen Männer verschlang, gefolgt von einem Donnerschlag, der die Erde erzittern ließ. Als der Blitz verblasste, lagen die Soldaten wie gemähtes Korn am Boden.
Kurald-Galain-Zauberei. Magie der Älteren, der Atem des Chaos.
Flickenseel atmete immer schneller; sie spürte ihr Thyr-Gewirr in sich hineinströmen. Sie formte es, murmelte leise bindende Worte und entließ die Kraft. Calot tat es ihr gleich, zog seine Kraft aus seinem Mockra-Gewirr. Locke hüllte sich in seine eigene geheimnisvolle Magie, und der Kader trat in den Kampf ein.
Obwohl Flickenseel sich von diesem Augenblick an auf die Schlacht konzentrierte und alles andere ausblendete, hielt sich doch ein kleiner Teil ihres Geistes davon fern, als wäre er an eine Leine aus Entsetzen gekettet, und beobachtete merkwürdig gedämpft all das, was um sie herum geschah.
Die Welt verwandelte sich in einen lebendig gewordenen Albtraum, in dem magische Energien nach oben
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