Die Galerie der Lügen
Empfehlung: »Probier doch mal zur Abwechslung, auf deine innere Stimme zu hören, anstatt jeden Morgen wie eine Irre durch den Park zu rennen.«
Wie erwähnt, schaffte es Alex inzwischen, den Rat ohne schlechtes Gewissen zu beherzigen.
Als sie aus der Dusche kam, war ihre Gastgeberin schon fast im Buchladen in der Notting Hill Gate. Weil Lucys Kleidung für Alex ein paar Nummern zu klein war, bediente sie sich bei den alten Sachen, die Darwin in seinem Elternhaus zurückgelassen hatte. Sie fand Gefallen an einer dunkelblauen Jogginghose und einem dazu passenden Sweatshirt, beides geschmückt mit dem Emblem der Toronto Blue Jays, einem kanadischen Baseballteam.
Die gemächliche Gangart nach dem Aufstehen war Teil eines Rituals, das im Lesen der morgendlichen Presse mündete. Nein, sie zelebrierte die Zeitung neuerdings. Vor allem, wenn sie darin eine neue Folge ihrer »Galerie der Lügen« erwartete. Leider hatte Lucy nur den Daily Mirror abonniert – man könne nicht immer nur Milton, Blake und Shaw lesen. Nachdem der Toast gebuttert und mit Orangengelee bestrichen sowie der Earl Grey in die Tasse gefüllt war, entrollte Alex die Zeitung. Und erstarrte.
Ihr Gesicht füllte die halbe Titelseite aus.
Die Überschrift zum Foto wie auch der als »exklusiv« gekennzeichnete Artikel trieben ihr die Zornglut ins Gesicht.
VIELKÖPFIGES ZWITTER-PHANTOM
Aufgedeckt: Warum die Traumdeuterin Alex Daniels dem Phantom des Louvre so ähnlich sieht
Von Susan Winter
Vor genau einem Monat berichteten wir von dem blutigen Sprengstoffanschlag im Pariser Louvre-Museum. Jetzt gelangte der Mirror an exklusives Beweismaterial, d as Unglaubliches enthüllt: Der T äter war ein Zwitter. Und er war nicht allein. Es gibt mindestens drei eineiige Geschwister, die weder Mann noch Frau und doch beides zugleich sind. Einer ist den Stammlesern des Mirror bestens bekannt: Er heißt Alex Daniels. (Mehr dazu auf Seite 9.)
Alex war nicht in der Lage umzublättern. Sie konnte auch nicht den Blick von der Zeitung nehmen. Immer wieder las sie das Unfassbare, als könne sie dadurch die Worte in eine leichter verdauliche Nachricht verwandeln. Wie hatte Susan ihr so etwas antun können! Mit dem Artikel vom Sonntag war sie bereits bis an die Schmerzgrenze des Erträglichen gegangen. Am Montag hatte sich Alex eingeredet, der Chefredakteur habe ihre »Galerie der Lügen« nur zurückgehalten, um das Thema nicht über Gebühr auszureizen. Aber nun das !
Irgendwann schaffte es Alex doch, ihre Hände zur Mitarbeit zu bewegen. Sie fand die Fortsetzung und las sie mit zunehmender Fassungslosigkeit.
Zwei Menschen wurden am 9. September im Pariser Louvre-Museum von einer Bombe zerfetzt. Eine antike Marmorstatue verwandelte sich in Schotter. Die am Tatort gefundenen Fingerabdrücke führten Interpol ins Vereinigte Königreich. Die London er Wissenschaftspublizistin und J ournalistin Alex Daniels (25) wurde verhaftet. Aber ihre Finger abdrücke ähnelten denen des Täters lediglich. Sie war das unschuldige Opfer einer Verwechselung geworden. Was für sie wie ein Happy End aussah, soll nun zu einem Albtraum werden.
Am vergangenen Donnerstag ist Daniels nur knapp einem Mordanschlag entkommen. Tags darauf wurde ihr Haus durch eine Gasexplosion verwüstet. Seitdem ist sie verschwunden. Die Polizei hält sich bedeckt. Will sie das Opfer nur vor weiteren Attentaten schützen, oder ist Daniels längst die dritte Leiche in einem zunehmend mysteriöser werdenden Fall?
Für die Leser des Mirror ist die Publizistin keine Unbekannte. Seit dem Anschlag in Paris meldete jeden Sonntag ein anderes europäisches Museum einen Aufsehen erregenden Raub. Daniels lieferte eine atemberaubende Deutung der Vorfälle, die sie als »Galerie der Lügen« bezeichnete. Sie kündigte am Montag letzter Woche eine Enthüllung an: Sie habe einen Zwilling, dessen Existenz ihr bis vor kurzem noch unbekannt war. Er könnte an den als terroristisch eingestuften Aktionen in Paris, London und Wien beteiligt gewesen sein.
Am Sonntag fragten wir noch: Ist dieser Zwilling Jerri Lovecraft gewesen, die angeblich am 7. September mit ihrem Auto an der Einfahrt zum Blackwall-Tunnel tödlich verunglückte? Gestern wurde ein Teil des Rätsels gelöst. Der Daily Mirror gelangte durch einen Informanten von Scotland Yard an exklusives Beweismaterial. Der genetische Fingerabdruck des toten Terroristen aus dem Louvre wurde mit denen von Lovecraft und Daniels verglichen. Resultat: Alle
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