Die Galerie der Lügen
ständiger Kampfbereitschaft. Wenn irgendjemand Charles Darwins Postulate daherbetete, empfand sie dies als einen hingeworfenen Fehdehandschuh, den sie zwanghaft aufnehmen musste. Die beiden Anschläge auf ihr Leben hatten diesen Reflex nicht etwa abgetötet, sondern eher stimuliert. Wenn das »Gehirn« sie zum Schweigen bringen wollte, indem es ihr Haus in die Luft sprengte, dann sollte es seinen Irrtum bitter bereuen. Jetzt würde sie erst recht ihre Interpretationen der Museumseinbrüche öffentlich verbreiten, nicht für Theo, sondern um der Wahrheit willen.
Ihre neue Entschlossenheit wäre ohne Lucy wohl wesentlich langsamer in die Gänge gekommen. Als Alex am späten Samstagvormittag mit ihrer Gastgeberin beim Frühstück gesessen hatte, kam das Gespräch über frühe Kindheitserlebnisse auf das Thema Geschwister. Terri Lovecrafts Name fiel. Und wer war der unbekannte Tote im Louvre? Etwa ein eineiiger Drilling? Darwins Schwester wollte sämtliche Einzelheiten über den Raubzug durch die drei weltberühmten Museen und Alex’ Deutung des Unachtsamen Schläfers erfahren.
Nachdem sie alles gehört hatte, sagte sie: »Ich finde, das sollten alle wissen.«
Alex war anfangs noch zögerlich gewesen. »Letzten Dienstag haben viele Zeitungen eine Pressemitteilung von mir veröffentlicht, in der ich einige meiner Deutungen zum Besten gegeben und eine Fortsetzung angekündigt habe.«
»Und? Wo ist Teil zwei?«
»In der Asche meines Hauses«, antwortete Alex bedrückt.
»Also, wenn du einen Computer mit Internetanschluss brauchst – du kannst mein Notebook benutzen.«
Ein böses kleines Lächeln stahl sich auf Alex’ Lippen. »Ich würde dem › Gehirn ‹ schon gerne zeigen, dass ich mich nicht so schnell in die Knie zwingen lasse.«
»Na, dann tu’s doch. Dieses Phantom der Oper, oder wie du es genannt hast, wird morgen wieder zuschlagen – das waren doch deine Worte, oder?«
»Naja, so ähnlich, aber…«
»Nichts aber. Wenn du heute per Mail deine Fortsetzung an die Medien gibst, können sie bis Montag damit herauskommen, passend zum neuen Einbruch. Und am Dienstag schiebst du dann deine Erklärungen zur jüngsten Aktion des › Gehirns ‹ nach.« Lucy klatschte in die Hände. »Aktueller Bezug, viele Leser.«
Alex musste grinsen. »Man könnte glauben, du hättest Journalistik studiert.«
»Ich war mal Herausgeberin einer Schülerzeitung.«
»So haben schon viele große Karrieren begonnen.«
Tatsächlich waren am Montag in vielen Blättern die »neuesten Enthüllungen« zu der Einbruchsserie erschienen. Die Leute hatten teilweise schon im Radio von dem jüngsten Raub in München erfahren und rissen den Händlern alles aus der Hand, was Hintergrundinformationen zu der Verbrechensserie versprach. Sogar Fernsehen und Rundfunk, die sich bis dahin weitgehend auf die Meldung von Fakten beschränkt hatten, erlagen der Versuchung zu quotenträchtigen Spekulationen. Alex Daniels mochte als exzentrische Außenseiterin gelten, aber sie war anscheinend die Einzige, die so etwas wie eine Erklärung anbieten konnte. Ihre Kritik an der Evolutionstheorie nahmen zwar nur wenige ernst, aber es wurde ihr zugetraut, sich in die Gedanken der Terroristen hineinzuversetzen; denn ihre Fingerabdrücke ähnelten ja den im Louvre gefundenen Spuren. Was brauchte es mehr, um ihre Qualifikation nachzuweisen?
Terri Lovecrafts Name tauchte in Alex’ Berichten nicht auf. Trotzdem geisterte er durch die Medien. Ausgerechnet der Daily Mirror ignorierte die jüngste Folge der »Galerie der Lügen«. Dafür hatte das Blatt bereits in seiner Sonntagsausgabe erneut den blutigen Vorfall im Greenwich Park aufgegriffen, um die Verbindung zwischen der kürzlich verunglückten Tochter von Mrs D’Adderio und der »Traumdeuterin der Nation« offen zu legen. Die Meldung stammte von Susan Winter.
Susans Killerinstinkt im Hinblick auf reißerische Storys war Alex nicht fremd. Die Reporterin wollte mit Macht nach oben. Aber der Artikel vom Sonntag bedeutete dennoch eine herbe Enttäuschung für Alex. Am liebsten hätte sie ihre alte Kommilitonin sofort angerufen, um sie zur Rede zu stellen. Lucy redete ihr das Vorhaben aus. Sie solle lieber noch eine Weile abgetaucht bleiben und ihren nächsten Coup vorbereiten.
Am Dienstagmorgen stand Alex erst nach acht auf. Ihr Körper reagierte auf den Stress und die Anstrengungen der letzten Zeit mit einem verstärkten Schlafbedürfnis. Als sie Lucy davon erzählt hatte, gab diese ihr eine verblüffende
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