Die Galerie der Lügen
Drogen als vielmehr wegen der Furcht, die Alex mit einem Mal verspürte. Sie ahnte, ihre Gedanken könnten mehr als nur Fantasie sein. Mit geschlossenen Augen rief sie sich den Leitspruch ihrer Mutter in den Sinn:
»Wenn das Leben sich immer schneller um einen dreht, dann ist es um so wichtiger, still stehen zu bleiben.«
Vorsichtig erhob sie sich. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Alex versetzte sich in die Stimmung, die ihren Körper mit einem grünlichen Schimmer überzog. An unbedeckter Haut mangelte es nicht. Sie hatte noch dieselben Kleidungsstücke am Leib, die ihr nach dem Strip vor Theo übrig geblieben waren: Boxershorts, BH und Socken. Für eine notdürftige Orientierung in der näheren Umgebung würde die eigene Leuchtkraft genügen. Sie lächelte dankbar für die null Komma eins Prozent, die den Unterschied zwischen ihrem Genom und jenem von Theo ausmachten.
Im matten Schimmer ihrer selbst schwankte sie zur Tür. Sie war natürlich verschlossen. Alex lief zum Fenster, öffnete es und rüttelte an den Läden. Sie saßen bombenfest. Aber hier und da drang Tageslicht durch die Ritzen, für Alex ein Hoffnungsschimmer, der ihr zusätzliche Kraft verlieh.
Das plüschige Zimmer war tatsächlich eine hübsch getarnte Kerkerzelle, das wurde ihr allmählich klar. Sie lief ins Badezimmer. Da gab es nicht einmal ein Fenster, nur einen winzigen Ventilator zum Abtransport verbrauchter Luft…
Ihre Gedanken stockten unvermittelt. Wo ein Ventilator war, da musste auch ein Abzug sein. Das Haus war modernisiert worden. Mit Sicherheit gab es sogar Leitungsschächte für die Elektrik. Und vermutlich hatte man hier der Einfachheit halber beides in einen Hohlraum gelegt. Aber wie durch die Wand kommen? Und wie konnte sie sicher sein, wo dieser Leitungsschacht verlief? Leider hatte sie keinen Röntgenblick.
Aber etwas anderes.
Mit Alex’ Sensibilität für elektromagnetische Strahlung verhielt es sich ähnlich wie mit dem menschlichen Gehör. Es gab Leute, die wohnten neben einer Bahntrasse und konnten das Gedröhne der vorbeifahrenden Züge völlig aus ihrem Bewusstsein aussperren. Das ganze Haus mochte wackeln, aber sie schliefen ruhig und fest. Ebenso nahm Alex das ständige »Rauschen« kaum noch wahr, das jede elektrische Leitung emittierte. Nur aggressivere Strahlenquellen wie Handys, Funkmasten oder Metalldetektoren an Flughäfen bereiteten ihr Unbehagen, Übelkeit bis hin zu Ohnmachtsanfällen. Wenn sie sich hingegen auf ein Strom führendes Kabel konzentrierte, dann konnte sie es selbst tief im Beton orten.
Ihre elektromagnetischen Sensoren saßen irgendwo im Gehirn. Daher vollzog sie nun eine Reihe von Übungen, die den unbedarften Beobachter zum Naserümpfen ermutigt hätten. Sie bewegte, die ausgebreiteten Hände auf die Fliesen gelegt, ihre Nase dicht an der Badezimmerwand entlang, zunächst auf Augenhöhe, aber dann ging sie auch in die Hocke, und zuletzt lag sie bäuchlings am Boden. Wenig später stand sie auf dem Klodeckel und »beschnupperte« die oberen Regionen der Wand. Endlich nickte sie zufrieden. Der Abzugsschacht verlief zunächst ein Stück nach rechts und dann senkrecht durch die Mauer.
Das nächste Problem gestaltete sich weit schwieriger. Wie sollte sie ein Loch in die Wand bekommen?
Alex sah sich im Badezimmer um. Außer einer Klobürste aus Plastik fand sich nichts, das größer war als eine Toilettenrolle. Sie lief in den Nebenraum. Hier gab es immerhin ein Bett. Wie sich herausstellte, war es am Boden festgeschraubt und überraschend stabil. Massive englische Eiche.
Anders das Tischchen, auf dem Theo in Plastikdosen seinen – aller Wahrscheinlichkeit nach vergifteten – Proviant ausgebreitet hatte. Das Möbel war geradezu filigran. Alex fegte die Schalen und Gefäße zu Boden, kippte den Beistelltisch um und lehnte ihr ganzes Gewicht auf eines der Beine. Es brach sofort aus seiner Verankerung.
Zu leicht, wie sie fand.
Sie eilte mit ihrem Werkzeug ins Badezimmer zurück und schwang es gegen die Wand.
»Die Mühe hättest du dir sparen können«, grunzte sie.
Die Keule war viel zu leicht, auch nur die Fliesen anzukratzen. Sie lief abermals ins Gästezimmer, um Ausschau nach schwereren »Hämmern« zu halten. Aber da gab es nichts.
Unverrichteter Dinge kehrte sie ins Badezimmer zurück. Allmählich wurde sogar das Leuchten ihrer Haut zu einer Kraftprobe. Verzweifelt sah sie sich um. Mit einem Mal blieb ihr Blick an den Wasserhähnen über der Badewanne hängen. Sie stieg in
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