Die Galerie der Lügen
sie wohl aus ihrem Zustand des Schwebens erwacht. Doch jedes Mal, wenn ihr Geist sich aus der Umschlingung durch die klebrige Dunkelheit befreien wollte, hatte jemand sie wieder zurückgestoßen.
Seit einer Weile – Alex wusste nicht, ob es Minuten, Stunden oder gar Tage waren – kehrte ihr Bewusstsein indes zurück. Einzelne Erinnerungen leuchteten wie Schlaglichter in ihrem Geist auf. Immer wieder sah sie sich mit Theo an dem riesigen Glastisch sitzen. Die Reflexionen der glatten Oberflächen zeigten ihr andere Bilder: eine ausgelassene Angelgesellschaft, blutverschmierte Neugeborene – einige waren wunderschön, andere hatten zwei Köpfe oder vier Arme –, einen Riesen mit blonden Haaren, aber ohne Gesicht…
Ja, Theo war bei ihr gewesen! Mit dem Schwinden der Bewusstseinstrübung wurden die Episoden ihrer Gefangenschaft deutlicher. Er hatte Fürsorglichkeit geheuchelt, mit seiner einschmeichelnden Stimme auf die apathisch im Bett Liegende eingeredet, ihr beim Verrichten der Notdurft geholfen und ihr Essen und Trinken eingeflößt. Danach war sie erneut ins Niemandsland zwischen Traum und Wachen entglitten.
Bis Theo eines Tages nicht zu ihr kam.
War es gestern gewesen? Auch das wusste Alex nicht mehr. Immerhin hatten ihre wiedererwachenden Lebensgeister auch das Misstrauen zurückgebracht. Von dem Essen, das Theo ihr auf einen Tisch neben das Bett gestellt hatte und das sie im Dunkeln nur erahnen konnte, rührte sie nichts an. So wurde sie zwar klarer, aber auch wieder schwächer. Und durstiger.
Irgendwann hatte sie sich aus dem Bett gewälzt, war auf den – glücklicherweise – dicken Teppich gefallen und, zu benommen, um das Leuchten ihrer Haut zu entfachen, wie ein Regenwurm nach einem Wolkenbruch durch das finstere Zimmer geirrt. Irgendwie hatte sie sich so bis zum Bad geschleppt, wo sie Wasser aus dem Hahn trank. Danach war sie auf den kalten Fliesen eingeschlafen.
Sie erwachte im Körper einer Vogelscheuche, in die der Frost gefahren war. Ihre steifen Glieder schmerzten. Sie schlürfte abermals Leitungswasser aus dem Hahn und kroch auf allen vieren zum Bett zurück.
Da lag sie immer noch. Ihr e Augen waren jetzt offen, was an ihrer Blindheit nichts änderte. Theo hatte ihr alles genommen: die Kleider, das Vertrauen, die Würde, das Licht. Sie war zu leichtgläubig gewesen.
Die Einsicht in diesen folgenschweren Irrtum brachte allmählich den Zorn zurück. Nachdem das Licht am Dienstagabend erloschen war, hatte sie in ihrem stockfinsteren Gefängnis erneut getobt, an die Tür gehämmert, war sogar zum Fenster getappt, hatte es geöffnet und an den Gitterstäben gerüttelt. Bis sie der Droge, die durch ihre Adern pulsierte, nichts mehr entgegensetzen konnte. Mit letzter Kraft war sie zum Bett gewankt, wo sie die Besinnung verlor.
Jetzt musste ihr Körper das meiste von dem Gift abgebaut haben. Vorsichtig richtete sich Alex auf. Obwohl sie das »Gästezimmer« nicht sah, schien sich alles um sie herum zu drehen. Sie wartete eine Weile, bis das Schwindelgefühl schwächer geworden war. Dann erst wagte sie, die Beine über die Bettkante zu schieben.
Sie lauschte. Kein Geräusch war in dem Haus zu hören. Hatte ihr geplagter Geist seit Beginn dieses Albtraumes nicht mehrmals Geräusche vernommen, manchmal laut und hallend, dann wieder leise wie ein Lufthauch? Das Haus war zwar renoviert, aber in seiner Substanz immer noch alt. Wenn sich darin jemand bewegte, dann veränderte es sich mit ihm. Es knarrte, ächzte – aber jetzt war alles still.
Mit einem Mal wurde ihr der Grund klar. Theo ist das »Gehirn«, rekapitulierte ihr Verstand. Und heute musste Sonntag sein. Oder Montag. Jedenfalls hatte er sie allein gelassen, um seine Galerie der Lügen zu ergänzen. Was würde er mit seiner Geisel anfangen, wenn er zurückkehrte?
Mit einem Mal fühlte Alex Panik in sich aufsteigen. Sie musste weg hier. Weg von diesem Haus. Sonst würde sie am Ende wie Ariel enden, die Leiche aus dem Louvre. Hatte Theo sich diesen Hermaphroditen auch mit Drogen gefügig gemacht? Oder war Ariel demselben Gefühl erlegen, das auch sie, Alex, blind gemacht hatte? Wenn man sich jahrelang als Einziger seiner Art auf dem Planeten fühlte, dann konnte einem das plötzliche Zusammentreffen mit einem Wesens- und Schicksalsgefährten schon die Sinne benebeln. Aber vermochte es auch hörig zu machen, folgsam bis in den Tod?
Verzweiflung mündet in Verzweiflungstaten.
Der Schwindel kehrte zurück, aber diesmal weniger als Folge von
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