Die Galerie der Lügen
Täter mildernde Umstände zusprechen.«
Sie hatte das unangenehme Gefühl, Cadwell versuche mit Blicken in ihre Gedanken einzudringen. Schließlich erklärte er: »Als Mensch vielleicht. Lazio Toth wurde von der italienischen Justiz für nicht schuldfähig erklärt und für zwei Jahre in eine psychiatrische Anstalt überwiesen. Aber als Künstler und Ästhet kann ich seine Tat nur mit Abscheu verurteilen. Der Australier hat ein vollkommenes Meisterwerk zerstört.«
»Wäre es Ihnen lieber gewesen, er hätte einem der Aufsichtspersonen den Schädel eingeschlagen?«
»Absurd!«
»Man nannte Michelangelo auch Il Divino, › den Göttliche n‹ , nicht wahr?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Er war ein Gott, der Vollkommenes erschuf. Ist das auch Ihr treibender Gedanke gewesen, als Sie sich für ein Studium der schönen Künste entschlossen?«
»Ich würde mir nie anmaßen, meine Fähigkeiten mit denen von Michelangelo Buonarroti zu vergleichen.«
»Warum so bescheiden, Dr. Cadwell? Von Il Divino ist überliefert, er habe bei der Erschaffung der Pietà – und so wohl auch beim David – die Figur immer schon im Stein gesehen und nur durch Wegschlagen des Überflüssigen daraus befreit. Haben Sie nie das Bedürfnis verspürt, das Gute besser zu machen, indem Sie seine Makel aus der Welt schaffen?«
»Alex, was soll das?« Die Frage kam von Darwin, der sie mit besorgter Miene von der anderen Seite des Tisches musterte.
Cadwell beugte sich im Stuhl vor. Ruhig und mit großem Ernst sagte er: »Ms Daniels, wenn Sie außer Ihren Andeutungen irgendetwas Konstruktives im vorliegenden Fall einbringen möchten, dann drücken Sie sich bitte klar und deutlich aus.«
Ihr Blick sprang zwischen dem Firmenchef und seinem Mitarbeiter hin und her. Hörbar gemäßigter erklärte sie: »Vielleicht hatte der Kunstattentäter im Vatikan auch etwas in dem Marmor erblickt, von dem er glaubte, es mit Gewalt freilegen zu müssen. Deshalb nahm er sich den Hammer des Bildhauers und keine Bombe.«
»Und was, glauben Sie, könnte er gesehen haben?«, hakte Cadwell geduldig nach.
»Womöglich wollte er hinter der Maske oberflächlicher Schönheit die wahre Gestalt endgültiger Verheerung zeigen? Deshalb hat er der Pietà den letzten Schliff gegeben, nämlich – um noch einmal Rilke zu bemühen – den des schrecklich Schönen.«
»Ich denke, Ms Daniels will damit andeuten«, mischte sich Darwin abermals ein, »dass auch der Täter, der es auf Michelangelos David abgesehen hat, das Bild der Makellosigkeit in Frage stellen will.«
»Indem er die Statue vernichtet?«
»Davon sollten wir ausgehen.«
Cadwell schüttelte einmal mehr den Kopf. »Irgendwie kann ich es immer noch nicht glauben. Mein Gott! Ein so vollkommenes Meisterwerk zu zerstören, das wäre mehr als Kunstfrevel. Es wäre… ein Verbrechen an der Menschheit.«
»Es ist ein Trugbild«, sagte Alex lakonisch. Sie konnte spüren, die Betroffenheit dieses Mannes war echt. Dennoch misstraute sie ihm.
Seine grauen Augenbrauen ruckten zusammen. »Sind Sie jetzt auch noch Kunstsachverständige?«
»Durchaus nicht. Allerdings ist meine › Galerie der Lügen ‹ das Ergebnis gründlicher Recherchen. In dem Zusammenhang habe ich auch im Web die wichtigen Quellen zu Michelangelos David nachgelesen.«
»Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie dadurch gelangt?«
»Nicht alle Experten halten den Koloss für ein anatomisches Musterbeispiel. Offenbar ist sein Schöpfer von der Vitruv’schen Regel abgewichen, nach der die Beine bis zum Schritt die halbe Körperhöhe ausmachen. Ich habe Fotos gesehen, die den David aus einer für normale Museumsbesucher ungewohnten Perspektive zeigen. Mustert man die Figur nämlich auf Augenhöhe, drängt sich einem tatsächlich der Eindruck auf, ihre Proportionen stimmten nicht: Die Hände erscheinen viel zu groß, ebenso der Kopf und der Oberkörper. Außerdem schielt der David. Michelangelo hat ihn auf ein frontales Betrachten des Körpers von unten herauf konzipiert. Da fallen einem diese… Unvollkommenheiten kaum auf. Man könnte es auch so ausdrücken: Er hat die Perspektive des Betrachters in seine Plastik mit einbezogen.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«, fragte Cadwell argwöhnisch.
»Der David – oder › Gigant ‹ , wie man ihn schon vor seiner Fertigstellung nannte –, dieses Meisterwerk der Bildhauerkunst von einem Künstler, der als göttlich verehrt wurde, ist nur aus der Zwergenperspektive vollkommen. Ähnlich ergeht es den
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