Die Galerie der Lügen
zu zünden?«
»Wieso fragen Sie das mich? Sind Sie denn sicher, dass sie die Figur überhaupt zerstören wollte?«
Mello lachte. »Damit haben Sie uns doch die letzten Tage ständig in den Ohren gelegen, Mr Shaw. Sie schienen sehr genau zu wissen, was diese Selbstmordattentäterin…«
Piero legte seinem Kollegen die Hand auf den Unterarm und brachte ihn damit zum Schweigen. Danach wandte er sich wieder Darwin zu.
»Zweifellos können Sie uns irgendeine Interpretation zu den gestrigen Geschehnissen anbieten, Mr Shaw. Ich würde sie gerne hören.«
Darwin hatte das Gefühl, der Commissario sei weniger verbohrt als sein uniformierter Kollege, daher mäßigte er sich im Ton. Ruhig legte er dem Zivilbeamten seine Überlegungen dar. Natürlich habe auch er sich über die Eigentümlichkeiten des vergangenen Abends seine Gedanken gemacht: das unerwartete Zögern des Täters, die Art und Weise, wie er die verschärfte Bewachung des Museums umgegangen habe, und schlussendlich die Explosion, die ihn zwar getötet hatte, aber zu schwach gewesen war, um die Pietà di Palestrina zu zerreißen.
»Die Ladung war nicht optimal angebracht und vielleicht auch falsch berechnet«, sagte Mello.
»Ich glaube eher, die Zerstörung des David war nur die Ultima Ratio.«
Piero zupfte sich stirnrunzelnd am Schnurrbart. »Das müssen Sie mir erklären.«
»Denken Sie an die Supermächte, die sich im Kalten Krieg mit ihren Atomarsenalen bedroht haben. Natürlich waren die Bomben und Raketen einsatzbereit, aber keine Seite wollte sie unbedingt gebrauchen. Hier, denke ich, war es ähnlich. Wer immer die Aktion geplant hat, er wollte der Öffentlichkeit etwas klarmachen. Vielleicht konnte er seine Botschaft sogar deutlicher und eindrücklicher vermitteln, indem er Michelangelos Statue unversehrt ließ.«
Darwin bemerkte, wie sich Alex auf ihrem Stuhl unruhig bewegte.
»Und was wäre das für eine Botschaft?«, fragte Pieri.
»Eine simple Wahrheit, die wir angesichts dessen, was Wissenschaft und Technik heutzutage vollbringen können, fast schon vergessen haben: Perfektion aus Menschenhand gibt es nicht. Etwas anderes zu glauben – ob für heute oder für die Zukunft – wäre ein gefährlicher Irrtum. Unsere Werke sind so sensibel wie Michelangelos David. Nur weil wir uns seiner Verletzlichkeit bewusst waren, konnten wir ihn retten. Wir sollten unsere eigenen Schwächen in Demut anerkennen, um diesen Planeten auf Dauer bewohnen zu können – er ist der einzige, den wir haben.«
»Schöne Predigt«, sagte Mello lakonisch.
Der Commissario bedachte ihn dafür mit einem strafenden Blick, um sich anschließend wieder an Darwin zu wenden.
»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ist das nicht ein bisschen spekulativ?«
Darwin wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ich musste in der vergangenen Nacht lange über etwas nachdenken, was mir einmal Dr. Ken Simmons begreiflich zu machen versuchte – er ist Kriminalpsychologe des britischen National Criminal Intelligence Service. Wir sprachen damals über den Sprengstoffanschlag im Pariser Louvre. Dr. Simmons bemerkte richtigerweise, dass diese Aktion aus dem Rahmen falle. Deshalb könnte sie ein Schlüssel zur Psyche des Täters sein. Er meinte noch, am Anfang der Serie komme ein besonderes Bedürfnis, eine einmalige Entscheidung oder etwas Vorrangiges zum Ausdruck. Im Laufe unserer Ermittlungen haben wir einige Erkenntnisse über die… nennen wir es, die Natur unseres Gegners gewonnen. Daraus schließe ich, dass seine beim Beginn der Serie zu Tage getretene Motivation auch zum Schluss wieder hervorgebrochen ist.«
»Vielleicht stiehlt und bombt er ja weiter. Woher wollen Sie wissen, was im Hirn dieses Verrückten vorgeht?«
»Ich habe mich nur in die Gedankenwelt des Täters versetzt.« Darwin wechselte einen Blick mit Alex. Sie nickte ihm lächelnd zu wie eine mit ihrem Schüler zufriedene Lehrerin.
Pieri musterte Darwin mit ausdrucksloser Miene. »Ich kenne einige Veröffentlichungen von Ms Daniels«, begann er hierauf grübelnd. »Was die Theorie von einer weltanschaulichen Motivation der Terroristen angeht, stimme ich Ihnen sogar zu. Aber dieser Kreuzzug gegen den Perfektionswahn – ich weiß nicht…« Er schüttelte den Kopf.
»Mr Shaw hat Recht«, sagte Alex unvermittelt. Alle sahen sie überrascht an.
»Wie können Sie das so sicher sagen?«, fragte Mello mit halb zusammengekniffenem Auge.
»Weil ich von Kevin T. Kendish, dem
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