Die Galerie der Lügen
nette Zellengenossin aussuchen, Herzchen. Ich glaube, ich weiß schon…«
»Sind Sie nicht bei Trost?«, fiel der Anstaltsarzt der Wärterin zornig ins Wort. »Sie werden diese Person zu niemandem sperren. Sie bekommt eine Einzelzelle. Möglichst weit weg von den anderen. Und dass Sie mir Stillschweigen über die Sache bewahren, hören Sie? Sollte morgen oder irgendwann in Holloway darüber gesprochen werden, dann sorge ich persönlich dafür, dass Sie beide ein Disziplinarverfahren an den Hals bekommen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« Die beiden Wärterinnen nickten.
Tränen rannen wie Sturzbäche über ihre Wangen. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Die Registrierung in Holloway war für Alex nur ein weiterer in einer langen Reihe von Missbräuchen gewesen. Dennoch hätte wohl kaum ein Richter der Welt die Untaten geahndet. Ärzte und staatliche Ordnungskräfte waren immer im Recht – solange sie sich an ihre Vorschriften hielten.
Wenigstens hatte sie die Untersuchung im Gynäkologenstuhl abwenden können. Sie hasste es, wenn Ärzte an ihr herumfingerten; selbst bei vierzig Grad Fieber hätte sie keinen an sich herangelassen. Schon ein Krankenbesuch in einem Hospital konnte sie in die Ohnmacht treiben. Es war eine richtige Phobie. Ihre Gedanken drifteten in die Vergangenheit ab.
Als Heranwachsende hatte Alex irgendwann damit begonnen, sich hinter einer Maske der Unnahbarkeit zu verstecken, hatte auf das Unrecht des Lebens mit Härte gegen sich und ihre Kontrahenten reagiert. Sie entwickelte großes Geschick darin, andere zu verunsichern. Das half ihr, die eigenen Selbstzweifel zu betäuben. Gewissensbisse empfand sie keine, wenn sie mit spitzer Feder gegen Zyniker anschrieb, die sich Wissenschaftler nannten und in Wirklichkeit Priester der Lehre des Naturalismus waren, dieser Philosophie, nach der sich die Natur mit allem darin aus sich selbst erklärte.
Obwohl die Jünger des Naturalismus jegliche Religion als Hirngespinst ablehnten, eiferte so mancher von ihnen mit religiösem Wahn für seine Weltanschauung. Der Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell vertrat sogar die Ansicht: »Alles erreichbare Wissen muss durch wissenschaftliche Methoden erlangt werden; und was die Wissenschaft nicht entdecken kann, kann die Menschheit nicht wissen.« Alex bemitleidete Menschen, die blind für die immaterielle Komponente des Universums waren und die ethische wie auch moralische Werte im Kosmos der zufällig wirkenden Naturkräfte lediglich für eine Illusion hielten, die sagten, so etwas wie Hoffnung gebe es nicht, weil letztlich nur der Stärkste siegen werde. Der am besten Angepasste, korrigierte sie sich. Mit der Sprache konnten die Darwinisten täuschend echte Scheinwirklichkeiten erschaffen, in denen Freigeister wie eine Alex Daniels keinen Platz hatten. »Anpassung« lautete das Zauberwort, gegen das sie nicht ankam, ohne sich selbst zu zerstören. In den Augen der Jasager war sie vermutlich eine Neurotikerin, ein Monstrum, eine verblendete Emanze, die alle Männer hasste. Wenn sie wüssten…!
Sie hörte das Klappern von Schlüsseln. Schnell wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Die Tür wurde geöffnet. Eine Wärterin beugte sich unter den Sturz, als fürchte sie, auch nur einen Fuß in die Zelle von Alex Daniels zu setzen.
»Mittagessen!«
Mittag? Alex stutzte. Wie lange hatte sie geschlafen? Dieser hinterhältige Anstaltsarzt musste ihr ein Beruhigungsmittel in den Früchtetee getan haben. Es konnte gar nicht anders sein. Nach der »Registrierung« und dem missglückten Telefonat mit ihrem Anwalt – sie hatte nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zurücklassen können – war sie viel zu aufgeregt gewesen, um auch nur ein Auge zuzutun. Alex verspürte Ekel. Man hatte schon wieder über ihren Körper entschieden, ohne sie zu fragen. Vermutlich war Dr. Chestnut sogar überzeugt, ihr etwas Gutes zu tun.
Draußen auf dem Gang sah sie eine Art übergroßen Servierwagen aus Edelstahl. Eine Frau mit asiatischen Gesichtszügen nahm aus den Einschüben ein Tablett heraus und brachte es in die Zelle. Sie trug Bluejeans und eine Denimbluse. Eine Knastschwester.
Sie lächelte. »Hi. Ich bin Maggy.«
Alex nickte mit unbewegter Miene.
»Bist zu Unrecht eingelocht worden, was?«
»Woher weißt du…? «
Die Asiatin lachte. »Hier drin sind alle unschuldig. Noch nicht gehört? «
»Halt keine Reden, Mädchen«, schnaubte die Wärterin vor der
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