Die Galerie der Lügen
betrifft.«
Shaw wich die Farbe aus dem Gesicht. »Sie glauben, die Mona Lisa könnte gefährdet sein?«
»Ehrlich gesagt, rechne ich mit einer besonders spektakulären Aktion…«
»Und da wäre Leonardo da Vincis Meisterwerk natürlich genau das Richtige.«
»Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering.«
»Gering? « , keuchte er. »Ms Daniels, wir reden hier vom bedeutendsten Gemälde der Welt. Wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Bild und den verquasten Gedanken des › Gehirns ‹ gibt, dann sollten Sie mich darüber aufklären.«
Alex zögerte. Hätte sie nur den Mund gehalten! »Sind Ihnen noch nie die androgynen Züge der Mona Lisa aufgefallen?«, fragte sie lahm.
Shaw blinzelte verwirrt. »Wollen Sie damit andeuten, sie sei ein Mannweib?«
»Sagen wir, sie ist weder eindeutig weiblich noch männlich.«
»Das ist mir neu. Aber wenn man’s recht überlegt – ich habe mal gehört, der Meister sei schwul gewesen.«
»Einiges deutet darauf hin. Ich erzählte Ihnen ja, dass ich mich in meiner Studienzeit mit Sigmund Freud beschäftigt habe. Damals stieß ich auf einen interessanten Essay von ihm, in dem er ausführlich die Homosexualität Da Vincis behandelt. Freud glaubte, im geheimnisvollen Lächeln der Mona Lisa manifestiere sich eine verschüttete Erinnerung Leonardos an seine Mutter. Die Vermischung männlicher und weiblicher Attribute ist bei ihm übrigens nicht nur in der Mona Lisa zu erkennen. Deshalb meinen einige, er habe damit seiner unerfüllten Liebe zu Knaben Ausdruck verliehen.«
»Dann zeigt das Bild also in Wirklichkeit ein Wesen zwischen den Geschlechtern? Einen… Hermaphroditen!«
Den Blick starr auf die Straße gerichtet, antwortete Alex knapp: »In gewisser Weise ja.«
»Sie machen mir Angst.«
»Ich denke, die brauchen Sie nicht zu haben. Vorerst sehe ich keine Gefahr für Da Vincis Bild. Das › Gehirn ‹ will der Welt, wie ich vermute, durch die Auswahl von nur sieben Kunstwerken eine komplexe Botschaft übermitteln. Zwei Hermaphroditen wären eine Wiederholung, eine redundante Aussage, die zu Lasten der Verständlichkeit des großen Ganzen ginge.«
»Dann meinen Sie, wir sollten uns vorerst auf andere Werke konzentrieren? «
»Ich bin schon dabei.« Alex’ Finger wanderte weiter über die Namen der Kunstwerke.
»Da bin ich aber froh!«, sagte Shaw erleichtert. »Stellen Sie sich vor, jemand würde die Mona Lisa…«
»Hier ist eins!«, unterbrach sie ihn.
»Was?«
»Landschaft mit dem Fall des Ikarus von Pieter Bruege l dem Älteren. Hängt in den Musé es Royaux des Beaux-Arts in Brüssel. Ikarus, der sich Flügel baut und in seiner Selbstüberschätzung der Sonne zu nahe kommt, um hiernach in den Tod zu s türzen – das würde sowohl zum Hut wie auch zur Kerze passen.«
»Versteh ich nicht.«
»Der Hut ist das männliche Traumsymbol, das für die gebündelten Ideen steht, die uns durch den Kopf schießen, die uns aber auch zu Kopf steigen können, wie die Redensart sagt. Das war ja bei Ikarus der Fall.«
»Bis er fiel.«
»Sie sagen es.«
»Und die Kerze?«
»Ebenfalls ein Phallussymbol, also männlich. Ihre Flamme sprüht geradezu vor Sinnkraft. Denken Sie an Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte.«
»Weil er es Zeus und Konsorten stahl. Bedeutung: Die Wissenschaft entreißt den Göttern die Macht. Die Kerze leuchtet sogar mir ein.« Shaw grinste, offensichtlich in stiller Freude über sein gelungenes Wortspiel.
»Beschränken Sie sich nicht allein auf das Vordergründige«, warnte Alex. »In der Traumdeutung besitzt dieses Symbol sehr viel mehr Aussagekraft. In ihm drückt sich auch das Bedürfnis nach Erleuchtung, also nach Einsicht, Erkenntnis, aber auch nach Gefühlswärme aus; jeder Versuch, etwas zu klären, was man nicht versteht.«
»Wie ist es mit dem Lebenslicht?«
»Richtig. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Kerzen verbrennen sich selbst, was auf das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit hinweist. Sie können aber auch die Macht des Träumenden über seine persönliche Magie symbolisieren.«
»Hab schon verstanden: Es ist komplizierter, als ich es mir wünsche. Im Handschuhfach finden Sie einen Kugelschreiber. Könnten Sie bitte den Ikarus markieren?«
Alex tat es und suchte weiter. Nur wenige Sekunden später schlugen ihre inneren Alarmglocken abermals an. »Der Alte an Tagen von William Blake.«
»Sagt mir nichts.«
Das erstaunte Alex. »Das Bild hängt im Britischen Museum. Es zeigt Gott, wie er mit einem Zirkel das
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