Die Galerie der Lügen
Universum vermisst.«
»Anstreichen!«, verlangte Shaw und deutete aufgeregt auf die Liste. »Machen Sie einfach überall ein Häkchen, wo Ihre Antennen etwas empfangen.«
Als der Griffith vor dem Stallhaus in den Rochester Mews zu stehen kam, hatte sich die Euphorie des Versicherungsdetektivs deutlich abgekühlt. Neunundsiebzig Werke – überwiegend Gemälde sowie etwa ein Dutzend Plastiken – waren in der Liste markiert. Shaw schüttelte den Kopf.
»Grob überschlagen müssten wir ungefähr vierzig verschiedene Versicherungsnehmer vor möglichen Einbrüchen warnen.«
»Dann tun Sie’ s«, antwortete Alex. Sie war überzeugt, die richtige Auswahl getroffen zu haben.
»Können wir die Liste nicht vielleicht doch noch etwas eindampfen? Nennen Sie mir einfach Ihre Top Ten.«
»Damit Sie mir nachher vorwerfen, ich hätte Sie auf eine falsche Fährte gelockt? Nein.«
»Das tue ich nicht. Ich versprech’s. Helfen Sie mir. Bitte.«
Alex spürte, unter welch enormen Druck Shaw stand. Sie blickte abermals auf den Computerausdruck. »Prometheus bleibt ein ganz heißer Kandidat.«
»Kreisen Sie Ihr Häkchen ein.«
»Welches?«
»Wie bitte?«
»Sie haben einen Dirck van Baburen in Amsterdam, einen Piero di Cosimo in München, einen zweiten in Straßburg, einen Jacob Jordaens in Köln, einen Peter Paul Rubens in Philadelphia…«
»Bitte nicht noch ein Rubens!«
»Ich habe die Bilder nicht gestohlen.«
»Schon gut. Gibt’s denn kein Gemälde, das ihn dabei zeigt, wie er das Feuer stiehlt? «
»Ich kenne mich zwar ein bisschen in den schönen Künsten aus, aber so weit reicht mein Wissen nun auch wieder nicht. Außerdem glaube ich, wir machen uns etwas vor. Das › Gehirn ‹ will uns die Augen öffnen – aber möglichst erst nachher. Meines Wissens nach hat man viele römische Sarkophage gefunden, die Prometheus dabei zeigen, wie er den Menschen aus Lehm erschafft. Fixieren Sie sich also nicht so sehr auf das Feuer.«
» Können wir Ihre Auswahl nicht wenigstens ein bisschen reduzieren«, bettelte Shaw und deutete auf das Blatt in Alex’ Schoß. »Was soll zum Beispiel das hier: Don Quixote von Pablo Picasso?«
»Der tapfere Krieger, der gegen die Windmühlen kämpft. Das Gefühl kennt wohl jeder, der gegen das darwinistische Ungeheuer anrennt und von ihm in den Medien herumgewirbelt wird.«
Shaw seufzte. »Also schön. Ich nehme die Liste mit, wie sie ist. Aber mein Boss wird mich vierteilen.«
»Sehen Sie es als Opfer für das Kulturerbe der Welt.«
»Wusste gar nicht, dass Sie einen so ausgeprägten schwarzen Humor besitzen.«
Auch in der Nacht zum Donnerstag fand Alex nur wenig Schlaf. Sie hatte nach der verwirrenden Spritztour mit Darwin Shaw noch an der Fortsetzung ihrer »Galerie der Lügen« gearbeitet, aber nicht viel zustande gebracht. Ein ums andere Mal entglitten die Gedanken ihrem Griff wie zappelnde Fische, nur um sich wieder bei Terri Lovecraft zu sammeln. Wer verbarg sich hinter diesem Namen, der sich jeder Änderung des Geschlechts so gefügig angepasst hatte? Und wen würde sie am königlichen Observatorium im Greenwich Park treffen?
Als ihr Wecker um fünf Uhr morgens klingelte, sprang sie förmlich aus dem Bett. Die Sonne würde – wie sie tags zuvor im Internet recherchiert hatte – erst um sieben Uhr fünf am Nullmeridian von Greenwich aufgehen, doch sie wollte lieber rechtzeitig dorthin aufbrechen. An diesem besonderen Tag durfte nichts schief gehen. Nach der obligatorischen Viertelstunde vor dem Kleiderschrank entschied sie sich für ein Jogging-Outfit: dicke graue, innen aufgeraute Baumwolle, dazu ein Stirnband, das auch die Ohren bedeckte, und Handschuhe aus schwarzer Wolle. Die Stunde vor Sonnenaufgang war im Oktober oft schon ziemlich kalt.
Kurz nach sechs traf sie in Greenwich ein. Sie stellte den Mini beim National Maritime Museum ab, in der Nähe von St. Mary’s Gate, also am nördlichen Ende des Parks. Von dort aus nahm sie ihr morgendliches Laufprogramm auf.
Eine Zeit lang lief sie grinsend durch die Dämmerung. Ihr war bewusst, wie albern sie sich benahm. In Kürze würde sie vielleicht der Frau begegnen, in deren Schoß sie die ersten neun Monate ihres Lebens verbracht hatte. Anstatt sich in Schale zu werfen, zog sie im Park als Joggerin ihre Runden. Sie hatte sich von dem konspirativen Drumherum zu dieser kindischen Maskerade verleiten lassen. Alles war wie in einem Spionagefilm: der kleine schweigsame Bote, die kurze geheimnisvolle Nachricht, die
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