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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Es war durch einen weiteren, niedrigeren Gitterzaun geschützt. Davor standen braune Bänke. Wenn sich jemand in dem Gebäude befindet, dann versteckt er sich, dachte Alex. Sämtliche Scheiben der weißen Sprossenfenster waren von innen verhängt.
    Sie wandte sich nach links, um einen Blick hinter die Nebengebäude zu werfen. Nach zwei oder drei Schritten entlang der Backsteinmauer spürte sie plötzlich ein vertrautes, wenn auch nicht eben willkommenes Kribbeln im Hinterkopf. Ein leichter Schwindel erfasste sie. Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, die elektromagnetische Strahlung von Handys und anderen Geräten sehr zuverlässig zu orten.
    Im Augenblick näherte sie sich ihr rasch von hinten.
    Alex fuhr herum und sah, weniger als zwei Schritte entfernt, eine hasserfüllte Fratze auf sich zukommen. Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis sie die Situation erfasst hatte. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Die sich nähernde Grimasse gehörte zu einer pummeligen Mittsechzigerin in dunklem Mantel. Alex kannte das südländisch anmutende Gesicht. Als sie gestern im Maitland Close die Klinken geputzt hatte, war es ihr schon einmal begegnet, nur für den kurzen Moment zwischen ihrer Begrüßung und der ins Schloss krachenden Tür. Die Frau hatte einen italienisch klingenden Namen gehabt. Alex fehlte die Muße, ihn aus ihrem Gedächtnis abzurufen, denn die Verfasserin der Einladung zeigte in diesem Moment, was der eigentliche Zweck des morgendlichen Treffens war.
    Hinter ihrem Rücken kam eine Hand zum Vorschein, in der ein gewaltiges Küchenmesser lag.
    »Mich bekommst du nicht!«, keifte die Frau – ihre Stimme klang wie die der Nebelkrähen im Park. Sie riss den Arm hoch und stach zu.
    Alex war beweglicher als ihre betagte Angreiferin und konnte sich im letzten Moment nach rechts wegdrehen. Das Messer rauschte dicht an ihrem Gesicht vor. Hätte sie etwas von Selbstverteidigung verstanden, wäre sie zur anderen Seite ausgewichen, wo ihre Gegnerin sie nicht durch ein einfaches Anwinkeln des Arms erneut in Gefahr bringen konnte. Im Bruchteil einer Sekunde wurde sie sich der tödlichen Bedrohung bewusst und griff entschlossen nach dem Handgelenk der Frau.
    Diese schrie vor Wut auf und versuchte sich loszureißen. Halt sie fest!, dröhnte eine Stimme in Alex’ Kopf. Lass sie ja nicht los! Ihre Widersacherin kreischte wie eine Raubkatze, die sich in ein Netz verfangen hatte. Sie spuckte, zerrte an Alex’ Sweatshirt und versuchte ihr in die Nase zu beißen. Die zwei stolperten über das Pflaster, mal hierhin, dann wieder dorthin. Alex war viel stärker als ihre Gegnerin, die aber wand sich wie ein Aal, trat mit den Füßen und stellte eine Menge andere Dinge an, um den festen Griff der sportlichen Joggerin aufzubrechen.
    Der Kampf wurde auf beiden Seiten mit der Entschlossenheit und Energie der Verzweiflung geführt.
    Plötzlich gelang es der wütenden Furie, das Messer zwischen sich und ihre Kontrahentin zu bringen. Alex wehrte sich mit aller Kraft gegen den Druck der Arme, die ihr die Klinge in den Bauch schieben wollten. Tränen der Anstrengung liefen ihr aus den Augen.
    »Hören Sie auf! Sie verwechseln mich«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, aber damit steigerte sie nur die Raserei ihrer Gegnerin.
    Alex überlegte, ob sie sich losreißen konnte, verwarf den Gedanken aber wieder. Die Linke der Frau hatte sich in das Sweatshirt verkrallt. Sie würde nur die gewonnene Bewegungsfreiheit zum tödlichen Stoß nutzen. Vielleicht war sie mit einer Überraschungsaktion mattzusetzen.
    Jäh warf sich Alex gegen ihre Widersacherin und drehte gleichzeitig das Messer mit einem Ruck von sich weg. Die Frau versuchte durch einen Ausfallschritt nach hinten ihr Gleichgewicht zu stabilisieren, blieb aber mit dem Fuß an einem vorstehenden Stein hängen und stolperte. Anstatt Alex loszulassen, zog sie diese mit sich hinab.
    Der Fall erschien Alex grotesk lang. Sie sah die aufgerissenen dunklen Augen der Frau und zugleich das näher kommende Pflaster. Dann erfolgte der Aufprall.
    Mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers trieb Alex das Messer in den Leib ihrer Gegnerin. Deren Hände öffneten sich. Alex rollte sich panisch zur Seite, rappelte sich wieder auf die Füße und stolperte einige Schritte zurück.
    Entsetzt starrte sie auf die Gestalt am Boden. Nur noch der schwarze Griff des langen Messer ragte aus dem dunklen Mantel; es musste irgendwo in der Nähe des Brustbeines eingedrungen sein. Die Frau hatte ihr das Gesicht zugewandt

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