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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Wahl von Zeit und Ort. Die etwas Bedeutungsschwangeres hatte.
    An der Greenwich-Zeit wurden gewissermaßen alle Uhren rund um den Globus kalibriert, entweder stellte man sie von hier aus stundenweise vor oder zurück. Das hing mit dem Nullmeridian zusammen, der im Jahr 1884, zur Blütezeit des Empire, per Konvention hierhergesetzt worden war. Alex hatte das Flamsteed House mit der Schulklasse besucht, mit ihren Eltern, mit ihren Halt suchenden Gedanken. Hier, auf dem Dach des Royal Observatory, fiel jeden Mittag um ein Uhr der rote Zeitball an einem Mast herab (um zwölf waren die Astronomen des neunzehnten Jahrhunderts gewöhnlich zu beschäftigt gewesen). Ein britisches Metronom, das der Welt den Takt vorgab.
    Die rote Kugel hatte für Alex’ Prozess der Selbstfindung eher symbolische Bedeutung. Jeder brauchte einen Nullmeridian, von dem aus er sein Leben vermessen und zu dem er in Zeiten der Orientierungslosigkeit zurückkehren konnte.
    Über die ausgedehnten Rasenflächen waberten Morgennebel. Die heiseren Rufe von Krähen hallten durch den Park. Mit zunehmender Helligkeit entdeckte Alex andere Frühaufsteher: eine Frau, die ihren Hund ausführte; ein Hund, der sein Herrchen ausführte; zwei Fahrradfahrer, die ihre Drahtesel ausführten. Im Großen und Ganzen blieb sie jedoch allein. Kurz vor sieben nahm die unauffällige Joggerin Kurs auf das Observatorium.
    Der Anstieg zum Flamsteed House war für eine trainierte Läuferin wie Alex kein Problem. Sie verließ den Weg und lief ein Stück über den Rasen, der jetzt, am Ende des Sommers, eher braun als grün war. Um Punkt sieben erreichte sie das hohe Gittertor des umzäunten Areals. Von weitem hätte man der Eisentür nicht angesehen, dass sie offen stand, aber das Versprechen auf dem Zettel wurde gehalten: Das Tor wird angelehnt sein.
    Es quietschte leise, als Alex es gerade weit genug nach innen schob, um hindurchzuschlüpfen. Ein kurzer Blick den Weg zurück, dann war sie auf verbotenem Terrain. Rasch schloss sie wieder die Pforte und huschte hinter das braune Kartenhäuschen, um von außen nicht gesehen zu werden. Von jetzt an erfüllte sie den Tatbestand des Hausfriedensbruches.
    Zunächst musste sie sich umsehen, ihre Marschroute abstecken. Das Royal Observatory bestand aus mehreren Gebäudeteilen, eine Mischung aus rotem und braunem Backstein mit weißen Verblendungen, die wie Zahnriemen an den Fassadenecken klebten. Der Komplex war verschachtelt genug, um eine ganze Schulklasse zum Versteckspiel zu animieren; unmöglich zu erraten, wo die Verfasserin der Einladung wartete.
    Unentschlossen blickte Alex zur Sonnenuhr zu ihrer Rechten, einem auf Hochglanz polierten Silberding, das sie immer an eine Raumstation mit Spinnakersegel erinnerte. Das futuristische Gebilde stand exakt auf dem Nullmeridian, der parallel zur Pforte verlief. In den Pflastersteinen war der vom Nord- zum Südpol verlaufende Längenkreis durch eine metallene Linie eingezeichnet. Linker Hand pflanzte er sich, rot wie Mrs Axelrods Lippen, an einer Hauswand fort, mitten durch die Tür. Wer dort eintrat, war gespalten in Ost und West. Alex kannte das Gefühl sehr gut.
    Niemand ließ sich blicken.
    Langsam näherte sie sich dem Flamsteed House. Links zogen die Giebel der kleinen Backsteinhäuschen an ihr vorbei. Sämtliche Türen, auch die mit dem roten Meridianband, waren geschlossen. Auch rechts von Alex ließ sich weder vor noch hinter dem Gitterzaun irgendjemand blicken. Die Anhöhe, auf der die königliche Sternwarte lag, war wie eine Insel im Nebel, wie ein der Menschheit entrücktes Avalon. Nur in der Ferne ragten die von der Sonne orange gefärbten Dächer einiger Hochhäuser aus dem Morgendunst.
    Alex spürte die unebenen Pflastersteine unter ihren Sohlen. Sie sandte ein zaghaftes »Hallo?« über den Platz.
    Keine Reaktion.
    Wäre das Tor hinter ihr nicht unverschlossen gewesen, hätte sie die Einladung zu dem Treffen für einen dummen Streich gehalten. Was sollte das? Warum zeigte sich die Verfasserin der Nachricht nicht endlich?
    Alex überquerte den Nullmeridian und betrat damit die westliche Hemisphäre. Das Gebäude mit dem roten Zeitball kam näher.
    »Haaallooooo!«
    Ihr Ruf verhallte irgendwo zwischen den Backsteinwänden.
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann Alex vorsichtiger aufzutreten. Sie schlich hinter das Flamsteed House, links endete die kleine Zeile von Nebengebäuden. Unschlüssig ließ sie den Blick an der braunen Rückwand des Observatoriums entlangwandern.

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