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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sah.«
    »Kevin!« Der Name schoss wie Erbrochenes aus Mrs D’Adderios Rachen.
    »Sie dürfen sich nicht aufregen!« Alex blickte zum Himmel. Hatte der Wind da eben das Knattern eines Rotors herbeigeweht? Sie hoffte inständig, von den Rettungsfliegern gleich entdeckt zu werden. Mrs D’Adderio hatte sich für ihren Anschlag den verstecktesten Winkel des Areals ausgesucht. Die wie eben noch ein Blasebalg pumpende Brust der Verletzten beruhigte sich allmählich wieder.
    »Alex…?«, sagte sie mit kaum noch hörbarer Stimme.
    »Sie sollten sich vielleicht nicht weiter anstrengen.« Es kostete Alex unendliche Überwindung dies zu sagen, wo ihr doch glühend heiße Fragen auf der Seele brannten.
    »Wozu?… Ich sterbe sowieso.« Mrs D’Adderio brachte tatsächlich ein mattes Lächeln zustande. »Als wenn ich’s nicht geahnt hätte. Hab mich noch bei Schnüffel-Margaret bedankt und ihr gesagt, dass… wir uns vielleicht nicht Wiedersehen.«
    »Schnüffel-… wer?«
    »Mrs Axelrod. Die Aufpasserin von Maitland Close. Hätte sie dich nicht aufgehalten…« Mrs D’Adderios Lider fielen herab.
    »Mrs D’Adderio! Neide!«, schrie Alex entsetzt.
    Neide D’Adderio öffnete mühsam wieder die Augen und hauchte: »Kind, mir ist so kalt!«
    »Sie haben viel Blut verloren. Aber das kriegen die Ärzte schon wieder hin. Halten Sie durch!« Alex suchte nach dem Hubschrauber, den sie zwar hören, aber nicht sehen konnte. Entgegen ihren schlimmsten Ahnungen fragte sie weiter. »Wer ist Kevin, Mrs D’Adderio?«
    »Terri und er sind Geschwister.«
    »Aber… er ist nicht bei Ihnen a uf gewachsen?«
    »Nein. Er… tauchte eines Tages auf. Seitdem hatte sich Terri verändert. Sie wurde aufsässig… aggressiv… wollte mit einem Mal wieder ein Junge… Kevin war das Gift, das sie umbrachte… Sie war ihm hörig… Fast so… als hätte er sie verhext.«
    Alex hatte zuletzt ihr Ohr vor den Mund der Verletzten halten müssen, um die hauchzarte Stimme zu verstehen. Dabei glaubte sie unter ihren Händen den Zorn zu spüren, der das letzte Tröpfchen Leben aus der verbitterten Frau herauspresste. Das Reden kostete sie zusätzliche Kraft. Verzweifelt blickte Alex einmal mehr zum Himmel. Jetzt konnte sie den Rettungshubschrauber sehen. Er war ganz nah, schwebte auf das Observatorium zu, aber er würde draußen, auf dem Rasen landen müssen. Sie wandte sich wieder der Verletzten zu.
    »Haben Sie und Ihr Mann Terri adoptiert?«
    »N-nein. Terri…« Mrs D’Adderio schloss den Mund, sammelte die letzten Reserven aus ihrem ausgelaugten Körper. »Terri ist unter meinem Herzen gewachsen… in Schottland…«
    »Dann sind Sie ihre richtige Mutter?« Am liebsten hätte Alex hinzugefügt: Sie sehen einander gar nicht ähnlich.
    »Ja«, antwortete Mrs D’Adderio. »Die Wehen, die ich bei ihrer Geburt hatte… So etwas… kann nur eine richtige Mutter spüren.«
    »Ich hatte gehofft, Terri und ich seien Geschwister.«
    Mrs D’Adderio lächelte sanft. »Aber das seid ihr ja auch, mein Kind. Es ist alles so… kompliziert… so…« Wieder brach die schwache Stimme.
    Alex sah für einen Moment auf und versuchte zu begreifen, was sie da eben gehört hatte. Schnell senkte sich ihr Blick wieder auf das bleiche Gesicht. »Aber wenn du Terri geboren hast und wir beide Geschwister sind, dann musst du meine Mutter sein.«
    Das bleiche Gesicht antwortete nicht.
    Eine Träne tropfte von Alex’ Wange auf die Stirn der reglos daliegenden Frau.
    Kein Zucken der Wimpern, keine Reaktion.
    Alex konnte die Verzweiflung nicht länger im Zaum halten. Waren die ihr präsentierten, so verschwommen formulierten Antworten eine Folge des geschwächten Zustandes dieser Frau oder ein über viele Jahre antrainierter selbstbetrügerischer Reflex? Hatte sie sich nur gewünscht, das Kind unter ihrem Herzen getragen zu haben? Oder war sie nur eine Leihmutter, der man eine im Reagenzglas befruchtete Eizelle eingepflanzt hatte? Im Vereinigten Königreich gab es nicht wenige solcher Frauen. Alex schüttelte die reglose Gestalt an den Schultern. »Neide! Sprich mit mir! Sag mir, dass ich Recht habe. Bist du meine Mutter?«
    Neide D’Adderio blieb stumm. Sie sollte nie wieder eine Antwort geben.
     
     
    Longfellow brachte Alex persönlich nach Hause. Sie war von den Rettungsfliegern zur Royal Parks Constabulary durchgereicht worden, einer für die Londoner Grünanlagen zuständigen Unterabteilung der Metropolitan Police. Die Stadtpolizei schaltete dann auf Alex’ ausdrückliches

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