Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
die Knie an, schlang die Arme darum und blickte Sybil forschend an. »Nach allem, was ich gehört habe, stimmt das. Was hast du noch geträumt?«
Sie scheute sich, ihm noch mehr von ihren »komischen« Träumen zu erzählen. »Ach, das war fast schon alles.«
»Fast?«
»Ja, es ging eigentlich nur um die Kette und den Palast.« Doch in ihrer Erinnerung sah sie noch das Bild des jungen Mannes mit dem lockigen schwarzen Haar, der die Kette auf seine Stirn gelegt hatte. Sie selbst hatte ihre Stirn von der anderen Seite dagegen gepreßt, und dann hatten sie sich geküßt. Seine Lippen hatten sich warm und weich angefühlt und sonderbare Empfindungen in ihr hervorgerufen. Und die Halskette zwischen ihnen hatte so hell aufgeleuchtet, daß sie die Augen schließen mußte.
»Liest du mir jetzt ein Märchen vor, Avel?«
Er nickte nachdenklich. »Sicher. Und vielleicht reden wir hinterher noch ein bißchen über deinen Traum?«
»Vielleicht.«
Sie gab ihm das Buch und wich dabei seinem Blick aus.
KAPITEL
28
Adom ballte die Fäuste, als er um die Ecke bog, die zu Ornias’ Büro führte. Ein kräftiger Wächter stand davor und nahm Haltung an, sobald er ihn erblickte.
»Guten Morgen, Lieutenant Dally«, grüßte Adom. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst. Ornias würde wütend sein über sein Eindringen. Er hatte Adom schon oft getadelt, wenn er ohne Voranmeldung erschienen war. »Sagen Sie dem Ratsherrn bitte, daß ich ihn sofort sprechen möchte?«
»Mashiah …« Dallys Stimme schwankte. »Ornias hat gesagt, er wolle von niemandem gestört werden.«
Adom preßte die Lippen zusammen. »Sagen Sie ihm bitte, daß ich hier bin.«
»Ich … ich kann nicht, Herr. Er würde mich häuten lassen, wenn ich auch nur an seine Tür klopfte. Sie wissen ja, wie er ist. Er …«
»Lieutenant, ich befehle Ihnen jetzt …«
»Bitte nicht, Mashiah, bitte nicht«, sagte Dally flehend. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen. »Das letzte Mal, als ich ihn gegen seinen Willen gestört habe, hat er meine sechsjährige Tochter zur Arbeit auf die Kartoffelfelder geschickt. In der Hitze ist sie schwer krank geworden und seitdem nicht mehr ganz richtig im Kopf. Bitte, ich könnte es nicht ertragen …«
»Es tut mir leid, Dally. Ich wußte nicht, daß er … Richten Sie dem Ratsherrn bitte aus, sobald er herauskommt, daß ich ihn so schnell wie möglich sprechen will? Könnten Sie das tun?«
Dally stieß erleichtert die Luft aus. »Ja, Herr. Danke, Herr. Ich werde es ihm ausrichten.«
Adom drehte sich um und ging. In seinem Kopf hallten die Worte O nein, o nein, o nein wider. Plötzlich fing er an zu laufen.
Rachels Geschichten mußten der Wahrheit entsprechen, wenn Ornias Dallys Kind etwas so Schreckliches angetan hatte. Er hatte darum gebetet, daß Rachel alles nur mißverstanden hatte und Ornias es ihm erklären konnte. Doch jetzt fühlte er sich so verzweifelt wie ein gehetzter Fuchs.
Er mußte mit Milcom sprechen. Gott würde ihm sagen, was er tun sollte.
Jeremiel zog sich in die Gasse zurück, als ein Pferdefuhrwerk in der Dunkelheit auftauchte, rasselnd an ihm vorüberrollte und wieder verschwand. Stimmen erklangen aus der Reihe halbzerstörter Wohngebäude, und er hörte das Klappern von Kochgeschirr. Irgendwo weinte ein Baby.
Die gefährlich schmale Kopfsteinstraße wand sich einen Hügel hinab, von dem aus man den Palast überblicken konnte. Den ganzen Tag hatte Jeremiel das Bauwerk ausgespäht, sich alle Fenster und Türen gemerkt, die als mögliche Fluchtwege dienen konnten. Jetzt lehnte er an einer steinernen Mauer und betrachtete einen bestimmten Teil der großen, dreieckigen Struktur genauer. Ganz offensichtlich war der Palast vor mehr als tausend Jahren von jemandem erbaut worden, der sich vor seinen eigenen Untertanen gefürchtet hatte. Selbst die unterste Fensterreihe begann erst etwa dreißig Fuß über dem Boden, und praktisch jede nach draußen führende Tür war mit schweren hölzernen Balken verstärkt. Eiserne Stäbe schützten die Aussichtsplattform über dem obersten Stockwerk, so daß sie wie ein Käfig aussah. Es schien nur so von Wachen zu wimmeln, deren graue Uniformen mit der Dunkelheit verschmolzen, wenn sie durch den Garten patrouillierten oder sich die Hände an den rotglühenden Kohlebecken wärmten.
Jeremiels besonderes Interesse galt den Wachen. Er merkte sich ihre Routen und registrierte, wann sie abgelöst wurden oder eine Pause
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