Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wäre noch nicht weit genug, um das zu begreifen.«
Sie erhob sich nachdenklich und ging zum Fenster. Adom stand ebenfalls auf und stellte sich neben sie. Er bemerkte, daß Rachel eine Reihe von Kindern beobachtete, die sich müde durch die windgepeitschten Straßen schleppten.
»Sie sind zu den Kartoffelfeldern unterwegs«, flüsterte er.
»Ich weiß. Sie arbeiten dort jeden Tag bis um Mitternacht.«
»Ich kann es nicht ändern, Rachel. Wir haben eine Hungersnot. Jeder muß arbeiten.«
»Für drei Lirot im Monat? Während die Erwachsenen zehn bekommen?«
»Die Kinder besitzen weder die Kraft noch die Ausdauer der älteren. Sie produzieren weniger.«
Ihr Blick wurde hart. »Dann wäre es wohl besser für uns alle, wenn du die Hälfte der Wachen und des Küchenpersonals entläßt und sie anstelle der Kinder auf die Felder schickst. Sie könnten deren Arbeit dreimal erledigen. Auf diese Weise würde die Ernte sehr viel größer sein.«
Adom dachte über diesen Vorschlag nach, während er eine Frau beobachtete, die einen Esel durch die Straßen führte. Die Frau hatte ihre abgetragenen Röcke hochgebunden und enthüllte sonnengebräunte Beine. Die Ladefläche des altersschwachen Karrens, den der Esel zog, war leer. Hatte sie heute nichts auf dem Markt bekommen? Doch Ornias hatte gesagt, sie hätten die Lebensmittelausgabestellen geschlossen, weil die Wirtschaft sich wieder gefangen hätte und auf den Feldern genug produziert würde. Zweifel überkamen ihn. »Ich werde meinen Stab sofort umorganisieren.«
»Und wenn Ornias das nicht erlaubt?«
Er schnitt eine Grimasse, ballte die Fäuste und wandte sich vom Fenster ab. Merkwürdig, vor ihrer Ankunft war er sich nie wie ein Gefangener vorgekommen. Doch jetzt hatte er den Eindruck, die Marmorwände würden ihn ersticken. »Ich werde es trotzdem tun.«
»Sei vorsichtig, Adom. Ornias hat weniger Skrupel als ein Giclasianer. Ich glaube, er würde nicht einmal davor zurückschrecken, dich zu töten, wenn du ihm zu selbständig wirst. Und den Leuten gegenüber würde er dann behaupten, du befändest dich in einer lang andauernden Zwiesprache mit Milcom.«
»Oh, ich glaube nicht, daß er …«
Beide zuckten zusammen, als jemand drängend an der Tür klopfte. Rachel warf Adom einen fragenden Blick zu. »Erwartest du jemanden?«
»Nein, obwohl es mitunter vorkommt, daß die Diener mich suchen, wenn etwas Wichtiges vorliegt.« Adom ging zur Tür und öffnete sie. Ari und Yosef standen draußen. »Was gibt’s denn?«
»Oh, nichts von Bedeutung, Mashiah«, erwiderte Yosef. Der runde Bauch des kleinen Mannes wirkte unter der weißen Robe, als wäre er schwanger. »Ari und ich wollten nur in die Abteilung für seltene Bücher der Bibliothek, um mehr über Milcoms Lehren nachzulesen, doch der Raum war verschlossen und bewacht. Wir …«
»Ja, es hat mal einen Diebstahl gegeben«, erklärte Adom zögernd. Seiner Ansicht nach sollten alle Bücher der gesamten Bevölkerung Horebs zugänglich sein, doch Ornias hatte ihn dieser Haltung wegen getadelt und gefragt: »Mein Gott, Adom, willst du denn keins der Bücher für dich selbst behalten?«
»Es tut uns leid, dich zu stören, Mashiah, aber könntest du diese Genehmigung unterzeichnen?« Yosef reichte ihm das Plastikblatt und einen Laserstift.
Als Adom die Sachen entgegennahm, fiel sein Blick auf Aris Gesicht, und er bemerkte, daß der alte Mann neugierig zu Rachel hinüberschaute. In diesem Moment erinnerte sich Adom an Milcoms Empfehlung, dafür zu sorgen, daß die beiden einander mochten. Er unterschrieb das Blatt, ohne einen Blick auf den Text zu werfen, gab es Yosef zurück, streckte dann den Arm aus und zog Funk ins Zimmer.
»Rachel?« rief Adom. »Ich möchte dich mit Ari Funk bekannt machen. Er ist einer meiner persönlichen Assistenten. Yosef Calas ist der andere. Wenn du jemals irgend etwas brauchst, wende dich an einen von ihnen, und sie werden sich darum kümmern.«
Rachel bildete mit den Händen das heilige Dreieck. »Mister Funk, Mister Calas, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
Ari wischte sich die Hände an seiner Robe ab und schenkte ihr ein breites Lächeln. »Sie sind genau mein Typ«, krächzte er. »Wollen Sie nicht mit mir durchbrennen?«
»Wie bitte?«
»Ich bin genau der richtige Mann für Sie. Besser können Sie es gar nicht treffen.«
Rachel runzelte die Stirn. »Aha. Sehr interessant.«
»Oh, ich … ich bin sicher, Ari macht nur … Spaß«, warf Adom ein, der spürte, wie die
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