Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
aber nicht verschlossen.«
Rachel stand wie erstarrt da. Die Lähmung, die sie befallen hatte, rührte zum Teil von der nächtlichen Kälte her, aber auch von einer schrecklichen Vorahnung. Die zarte Pflanze der Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, starb wieder ab. »Dann ist es mit Sicherheit eine Falle. Er wußte, daß ein paar überleben würden und … Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen uns schnell etwas einfallen lassen.«
»Aber vielleicht haben wir einen Freund dort draußen, und das Tor ist deshalb offen«, wandte Colin ein.
Verzweifelte Hoffnung spiegelte sich auf den Gesichtern der Umstehenden. Jeder wollte daran glauben. Rufe wie: »Ja, ein Freund will uns helfen«, und: »Natürlich, sie können unmöglich alle Alten Gläubigen zusammengetrieben haben. Dort draußen wartet ein Verwandter«, durchdrangen die Nacht. Die Menschen warfen hoffnungsvolle Blicke auf die leere, vom Mondlicht beschienene Straße jenseits des Tores.
»Seid keine Narren«, murmelte Rachel. »Wir können uns nicht darauf verlassen.«
»Gott ist der einzige Freund, dem wir vertrauen können«, flüsterte Talo kläglich.
Rachel schaute ihn verwundert an. Selbst nach allem, was sie durchgemacht hatten, erstrahlte der Glaube noch immer in seinen dunklen Augen. Tief in ihrem Innern, in einer Nische ihres geschwächten Selbst, glühte Haß auf, nicht so sehr auf Talo als vielmehr auf jeden, der immer noch glauben konnte. Sie wollte Talo an die Kehle fahren und schreien: »Du dummer, dummer Narr! Was hat Gott denn heute für dich getan?« Doch ihr fehlte die Kraft.
Kleine Gruppen von Menschen näherten sich ihrem Kreis. Manche waren zu alt und erschöpft, um stehen zu können. Sie sanken zu Boden, kaum daß sie bei der Runde angekommen waren, wo die Entscheidungen getroffen wurden. Viele halfen Verletzten, auch wenn einige von ihnen selbst humpelten, und alle waren so schwach, daß sie keuchten und zitterten. Doch jeder von ihnen lauschte ängstlich und mit weit aufgerissenen Augen.
»Sind wir uns einig, daß wir das Tor stürmen?«
»Ich bin dafür«, sagte Talo.
»Ich auch«, erklärte Myra.
Zögernd stimmten auch die anderen im Kreis zu, sogar Colin. Dennoch dauerte es noch fast eine Stunde, bis sie die Unstimmigkeiten darüber, wer wo stehen und wer als erster gehen sollte, ausgeräumt hatten. Dann wappneten sie sich für das, was kommen würde. Als die Dämmerung den Horizont grau verfärbte, führte Rachel Sybil an die Spitze der Gruppe und stellte sich neben Talo. Der alte Mann schaute ruhig auf die Straße hinaus, der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.
»Tut sich irgend etwas?« flüsterte Rachel, während sie ihren Blick über die Häuser schweifen ließ.
Talo schüttelte den Kopf. »Nichts Verdächtiges. Sehen Sie? Dort drüben sammeln sich die Steintauben vor der Bäckerei und warten wie jeden Tag auf Abfälle.«
In dem gelben Laden mit den großen Schaufenstern brannte Licht. Ein langgestrecktes goldenes Rechteck beleuchtete die Vögel, die vor der Tür auf und ab stolzierten.
»Nett.«
»Ja, es sind gute Vögel, Freunde. Ich habe sie immer gefüttert. Jeden Morgen. Ich habe das Brot mitgebracht, das vom Abendessen übrig war, mich für ungefähr eine Stunde dort auf den Felsen gesetzt und ihnen die Brocken zugeworfen. Sie kennen mich.«
Er lächelte, als wüßte er, daß er das schon bald wieder würde tun können. Kalter Schmerz erfüllte Rachels Herz. Keiner von ihnen würde sich je wieder der Freiheit erfreuen, die sie einst besessen hatten. Falls sie entkamen, würden sie sich verstecken müssen, bis sie den Mashiah und seine verderbte Clique stürzen konnten. Doch wie lange würde das dauern? Wie viele Jahre der Gewalt standen ihnen bevor?
»Der wahre Mashiah«, sagte Talo, während die Hoffnung in seinen Augen aufleuchtete. »Er ist nahe, wissen Sie das? Letzte Nacht habe ich mich an einen Vers in der Tahrea erinnert. Wenn ich die Zahlen richtig gedeutet habe, besagen sie, daß er binnen weniger Wochen hier sein wird.« Er lächelte schwach und ein wenig unsicher.
»Ich bete, daß Sie recht haben, Talo.«
»Ganz bestimmt. Sie werden schon sehen.«
Rachel stand schweigend da und beobachtete ein paar Minuten lang, wie das dunkle Grau der Nacht in ein perlmuttartiges Opalisieren überging, das die Sterne überstrahlte. Lancer versank hinter dem Horizont.
»Wir sind bereit«, rief Collin. »Die Dämmerung ist fast da. Wir sollten uns beeilen.«
Rachel schluckte hart und nickte. »Ich
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