Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
erwiderte Jasper. Er hatte Angst gehabt, heimzugehen, und so war er hier und dort bei Freunden untergeschlüpft oder hatte sich in einem der Obdachlosenlager versteckt, die zu Hunderten die Stadt umgaben. Er mußte ständig in Bewegung bleiben, so wie es die cleveren Leute während der letzten gamantischen Revolte gemacht hatten. Selbst sein Besuch bei Pavel war ein Risiko, doch Jasper hatte vorher sorgfältig die Umgebung erkundet und war dann in einem günstigen Moment durch den Hintereingang hereingeschlüpft. »Davon abgesehen wärst du schon längst selber ein Krimineller geworden, wenn du nur einen Funken Verstand besäßest. Und ohne deinen dummen Job in den Regierungslabors könnten wir schon längst hier verschwunden sein und sicher auf irgendeiner Insel leben.«
»O Jasper«, stöhnte Pavel und kratzte seinen schwarzen Bart, »manchmal machst du mich so wütend, daß ich dich am liebsten aufhängen würde.«
»Na gut, aber wenn du in die Küche gehst, um ein Seil zu holen, dann bring mir noch ein Bier mit.« Jasper zerdrückte die leere Dose und grinste dabei frech.
»Klar. Ich tue doch alles, um für ein paar Sekunden deiner Gesellschaft zu entfliehen.«
Pavel riß ärgerlich die Küchentür auf und stapfte zum Kühlschrank hinüber. Während er die Fächer durchwühlte, kam es ihm so vor, als würde er hören, wie das Gartentor zugeschlagen wurde und Yaels Schritte sich eilig dem Haus näherten. Schließlich entdeckte er im untersten Fach eine Dose Imperial Stout. Er nahm sie heraus und hörte im gleichen Moment Jasper rufen.
»Pavel! Komm schnell her!«
Dann drang Yaels leises Weinen an sein Ohr. Pavel ließ die Dose fallen und die Kühlschranktür offen und rannte los. Als er ins Wohnzimmer stürmte, sah er Jasper, der auf dem Boden kniete, Yael im Arm hielt und ihr tröstend den Rücken streichelte. Yael schaute hoch. Ihr hübsches Gesicht war tränenüberströmt, und rings um die Augen waren rote Striemen und beginnende Schwellungen zu sehen.
»O Yael, was ist passiert.«
»Daddy?« heulte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
Pavel eilte zu ihr, hob sie hoch und drückte sie fest an sich. »Hast du einen Streit gehabt?«
Das Mädchen nickte und versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Du hast doch nicht als erste geschlagen, oder?«
»Nein, Daddy, ganz bestimmt nicht.«
»Ist schon gut, Kleines. Ganz ruhig jetzt.« Pavel streichelte sie sanft und küßte ihre Stirn. »Hast du irgend etwas gesagt, das du gar nicht so gemeint hast und …«
»Nein, ich weiß nicht, warum Maren mich geschlagen hat. Die Lehrer haben uns heute in verschiedene Klassen gesteckt und …«
»Wen, uns?« fragte Jasper.
»Uns Gamanten. Ich wollte gerade mit Jonas zum Zeichenunterricht gehen, da sprang Maren plötzlich hinter einem Busch hervor und schrie uns an. ’Ihr dreckigen Gamanten’ hat er gerufen, und dann hat er mich geschlagen, immer und immer wieder! Schließlich hat Jonas einen Stein aufgehoben und ihm damit aufs Ohr gehauen, und da hat er mich losgelassen.«
»Guter Junge, dieser Jonas«, knurrte der Großvater. Sein faltiges Gesicht hatte den wachsamen Ausdruck eines Wolfs auf der Jagd angenommen.
Pavel warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Praktisch ihr ganzes Leben lang hatte er Yael beigebracht, daß Gewalt nie zu etwas Gutem führte, sondern die Probleme stets nur vergrößerte. »Yael«, flüsterte er liebevoll und blickte ihr in die Augen, »wenn Maren so etwa noch einmal macht, dann bedeckst du einfach deinen Kopf mit den Händen und sagst ihm, daß es dir leid tut – selbst wenn du überhaupt nichts getan hast. Dann wird er aufhören, dich zu schlagen.«
»Okay, Dad«, murmelte das Mädchen und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Pavel, daß Jasper vor unterdrückter Wut fast kochte, tat aber so, als hätte er nichts bemerkt.
»Ich hab dich lieb, Kleines. Ist es jetzt besser?«
Yael holte tief Luft, hob den Kopf und lächelte schwach. »Ein bißchen.«
»Gut. Am besten gehst du jetzt und wäschst dir das Gesicht mit kaltem Wasser. Und auf dem Rückweg darfst du dir eins von den Plätzchen nehmen, die auf der Anrichte in der Küche liegen.«
»Eins von Tante Sekans Plätzchen?«
»Ja, sie hat sie heute morgen vorbeigebracht.«
»Was für eine Sorte?«
Pavel lächelte über ihren begeisterten Gesichtsausdruck und ließ sie auf den Boden hinunter. »Geh und schau selbst nach.«
Sie lächelte strahlend und lief los. »Ich wette, es sind welche
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