Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, indem sie mal nachts, mal vor Morgengrauen, und manchmal auch gar nicht herkam. Doch der stille Frieden dieses Ortes zog sie an wie eine Wasserstelle das Wild. Sie konnte nicht fortbleiben – aber sie durfte es auch nicht riskieren, mit ihm zu reden. Sie hatte sein Schicksal in anderen Universen beobachtet und wußte, wie gefährlich er war. Schon oft hatte sie sich gefragt, was in ihrem eigenen Universum aus ihm geworden wäre, hätte er einen Freund gehabt, der diese Bezeichnung verdiente. Nicht diese pathetischen, stumpfsinnigen Narren, deren ganze Tapferkeit sich darin erschöpfte, die Hände zu ringen und zu jammern, als er starb. In diesem Universum jedoch war er nicht mehr als ein sorgenfreier Fischer, der den größten Teil seines Lebens damit zubrachte, in einem winzigen Boot über den See zu fahren. Doch es konnte sehr viel mehr aus ihm werden, wenn sie ihn ermutigte und leitete … Und dann würde der Stoff der multiplen Universen unter dem Gewicht dessen, wozu er sich gezwungen sah, erbeben und zerreißen.
»Warum wartest du auf mich, Ha Notzri?«
Er betrachtete sie mit dunklen Augen, in denen ein gehetzter Ausdruck lag. »Weil … ich glaube, ich brauche dich.« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Ich fühle es in meinem Herzen. Woher kommst du, Rachel?«
»Von sehr weit her«, erwiderte sie kühl und raffte ihre weiße Robe zusammen, um sich zu erheben.
Er legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie aufzuhalten. »Bitte, Rachel, ich flehe dich an, sprich mit mir. Nur für ein paar Minuten. Mehr will ich gar nicht.«
»Das kann ich nicht, Ha Notzri. Es wäre für uns beide nicht gut. Aber das habe ich dir doch schon früher gesagt.«
Ein verlorener Ausdruck trat in sein Gesicht, so einsam und verlassen, daß Rachel in ihrem Entschluß wankend wurde. Was konnte es schaden, wenn sie sich ein paar Minuten über belanglose Dinge mit ihm unterhielt? Vor allem, wenn sie ihm das Reden überließ und selbst nur zuhörte?
Er schien ihre Entscheidung zu spüren. »Du bleibst? Das macht mich glücklich. Jedesmal, wenn wir miteinander sprechen, wird mir leicht ums Herz. Du hast mich so vieles gelehrt, Rachel. Schon seit einem Jahr denke ich darüber nach, was du über das Böse gesagt hast.«
Ein eisiger Schauer lief Rachel über den Rücken. Für ihn mochte es wie ein Jahr erscheinen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Für sie war es ein Monat und doch kein Monat. Die Ewigkeit ließ sich nicht unterteilen. Aber sie hatte nichts gesagt! Stets war sie äußert sorgsam darauf bedacht gewesen, nichts zu erwähnen, was die Zukunft dieses Universums ändern könnte. Rachel blickte ihn an und nahm die schlichte Würde seines Gesichts und die Breite seiner Schultern in sich auf. »Was habe ich denn gesagt? Verrate es mir.«
»Du erinnerst dich nicht?« fragte er mit einem Lächeln, das jedoch schwand, als er den bitteren Ernst in ihrem Blick bemerkte.
»Sag es mir!«
Notzri antwortete so eilig, daß die Worte förmlich aus ihm heraussprudelten. »Wir sprachen über allerlei Nebensächlichkeiten, über die Wasserversorgung und wie weit die Frauen die Eimer tragen müssen und wann die Datteln reif sind. Ich gab dir eine Blume, ein kleines blaues Ding, das in der Wüste wächst. Du hast gelacht, aber du hattest dabei Tränen in den Augen.« Er streckte zögernd den Arm aus, um ihre Hand zu berühren, und streichelte über ihre Finger. Bei jedem anderen Mann hätte Rachel die Hand weggezogen, doch sie wußte, daß er sie mit der gleichen Absicht streichelte wie die Ziegen – um einen Schmerz zu lindern, den er nicht verstand. »Und ich habe dich gefragt, weshalb Schönheit dich zum Weinen bringt.«
Er hielt inne, und Rachels Herz klopfte hart. Was? Was habe ich gesagt? »Und?«
»Du hast gesagt …«, er lächelte scheu, » … ich erinnere mich noch genau an die Worte: ›Kannst du dir vorstellen, daß die Schönheit einer Wildblume verblaßt, wenn dein Herz gebrochen ist und dein Kind vor Hunger weint? Kannst du begreifen, daß Verzweiflung jeden Sonnenaufgang trübt?‹ Und ich habe darauf geantwortet, daß er, der Fleisch wurde und gelitten hat, die Sünde von uns nahm, und daß daher Leid Erlösung bedeutet.«
Rachel atmete erleichtert auf. Sie hatte ihm nichts gesagt, nichts von Bedeutung jedenfalls.
»Das stimmt nicht ganz, Ha Notzri«, improvisierte sie. »Du mußt wissen, daß ich mich ebenfalls erinnere. Du hast die Römer als Beispiel benutzt. Du sagtest:
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