Die Gassen von Marseille
jetzt bin ich hier! Sagen Sie … Ich möchte Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber …«
Angewidert zieht sie ihre kleine Nase kraus.
»Hier stinkt’s!«
Ich hebe die Papiertüte hoch, unter der die Hand versteckt ist.
»Oh, wie schrecklich!«, schreit sie auf. »Decken Sie das wieder zu … Hat er Ihnen das mitgebracht?«
Ich nicke.
»Anscheinend ein Geschenk …«
Verdammt, das war knapp!
»Sind Sie sicher, dass er tot ist?«
Ihre Züge werden weich. Ich verspüre eine plötzliche Gleichgültigkeit allem gegenüber: Bomben, Paddeln, ballernden Zigeunern … Es wird leicht in meiner Brust, eine Last fällt von mir ab. Ich schließe die Augen. Juliette!
»Darf ich mal telefonieren?«, höre ich sie sagen. »Hey, M’sieur! Ich muss meine Dienststelle informieren.«
Ich bin so fasziniert von der plötzlichen Energie, dass sie ihre Frage zweimal stellen muss. Ich nicke.
»Ja, ja … natürlich! Sie haben mir gerade das Leben gerettet …«
Sie lacht laut auf. Mit einem Mal wird ihr bewusst, was sie getan hat, und vollkommene Zufriedenheit legt sich auf ihr Gesicht. Sie ruft Philippe an. Mir gehen eine Menge Dinge durch den Kopf, während ich mithöre, wie sie ihm von unserem Abenteuer berichtet.
»Sie kommen …«
Sacht legt sie ihre Hand auf meine Schulter. Ihre Haut ist seidenweich, gebräunt und schimmert gleichzeitig durchscheinend. Kleine Sommersprossen überziehen ihr ganzes Gesicht, sogar auf den schön geschwungenen Lippen befinden sich ein paar.
Komisch … Dieses Detail, die kleinen Sommersprossen auf ihren Lippen, verwirrt mich. Dadurch erscheint sie mir menschlicher, näher. Ich mag Dinge, die nicht ganz perfekt sind …
»Wie alt sind Sie eigentlich, dass Sie schon Inspektor sind?«, will ich verwundert wissen.
Sie lächelt, und ein Wohlgefühl durchströmt mich. Ich merke, dass ich in ihrer Gegenwart wieder anfange, auf mein Inneres zu horchen.
Was passiert da?
»Achtundzwanzig«, antwortet sie. »Genau das richtige Alter dafür.«
Ihr Gesicht verdunkelt sich.
»Aber … es ist das erste Mal, dass ich einen Menschen getötet habe.«
Vor dem Haus fahren Autos vor. So langsam entwickelt sich das hier zu einem Polizeiparkplatz. Mehrere Beamte stürmen die Treppe herauf. Mein Freund Philippe kommt als Erster herein. Ich begrüße ihn mit einem: »Da sind Sie ja schon wieder, Kommissar.«
Er wirkt unzufrieden und mürrisch und ignoriert meinen Gruß. Schnurstracks geht er auf den am Boden liegenden Mann zu, mustert ihn eine Weile und fragt dann die junge Inspektorin: »Was ist passiert, Vidal?«
Während sie es ihm erklärt, beginnen die Kriminaltechniker mit ihrer Arbeit. Mit halbem Ohr lausche ich dem Monolog der Polizistin. Meine Gedanken schweifen ab … Auf meinem Schreibtisch steht ein Foto, das mir am Herzen liegt. Es zeigt ein sehr junges schwarzhaariges Mädchen, das sich seelenruhig die Haare frisiert hat, ehe es sich nun zu dem störenden Eindringling umwendet … Zu mir. Mit fragendem, geheimnisvollem Blick. Ich versuche, eine Antwort darin zu lesen, dann sie zu hypnotisieren. Claudia spricht nicht mehr.
Ich spüre, wie sich Philippes Aufmerksamkeit auf mich richtet.
»Also war die Autobombe für dich?«
Ich schaue ihn kläglich an.
»Ich vermute, du hast mir etwas zu sagen?«, fährt er fort.
Ich denke an mein dramatisches Bad vor Malmousque, als sie versucht haben, mich zu erschlagen … Und daran, was der Typ gesagt hat, ehe er mir eine Kugel in den Kopf jagen wollte.
Seufzend erwidere ich: »Ja, ich habe dir einiges zu erzählen. Ich muss mit dir reden.«
Er sieht sich nach einem Ort um, an dem wir ungestört sind. Offenbar entspricht hier nichts seiner Vorstellung, denn stattdessen schlägt er mir vor: »Lass uns zur Place de Lenche gehen und etwas trinken.«
Er ruft die Inspektorin.
»Claudia! Wir sind im Café des Deux Frères an der Place de Lenche. Kommen Sie nach, wenn Sie hier fertig sind.«
Langsam gehen wir nebeneinander die Rue du Panier hinunter. Philippe ist in Gedanken. Ich erzähle ihm von dem Angriff vor der kleinen Felseninsel und den rätselhaften Worten des Killers. Was ihn am meisten interessiert, ist die Sache mit der Erpressung.
»Die haben dich mit Sicherheit verwechselt. Oder du bist irgendwie auf eine richtig heiße Sache gestoßen … Die Frage ist nur: wann? Es kann durchaus auch eine alte Geschichte sein … Hast du denn gar keine Ahnung?«
Ratlos zucke ich mit den Schultern.
»Ich weiß nur, dass der Kerl, den deine Inspektorin
Weitere Kostenlose Bücher