Die Gassen von Marseille
irgendwo umsonst aufgetrieben hatte … Nicht gerade der Knüller Mitte Juli …
Wir waren unzertrennlich …
Doch irgendwann endet die Jugend, und man wird erwachsen. Ich habe mehr Glück, bekomme eine bessere Ausbildung, vielleicht auch mehr Liebe, und treffe andere Entscheidungen. Ich leiste meinen Militärdienst in Paris, er wird als Ernährer der Familie ausgemustert und bleibt in Marseille.
Als ich ihn ein paar Jahre später wiedertraf, war er hart geworden. Verbittert und dunkel wie seine Haut. Er war im Gefängnis gewesen, eine Schnittnarbe zog sich über sein Gesicht. Gleich bei unserem ersten Wiedersehen erkannten wir, dass das, was einmal zwischen uns gewesen war, nie wieder sein würde. Ab und zu laufen wir uns in Marseille über den Weg und trinken einen Aperitif zusammen. Aber das ist auch alles. Heute weiß ich nicht mehr, was Roger Tag für Tag treibt, aber ich glaube, er hat sich seinen Platz im Milieu gesichert. Und wenn er mir mitteilt, dass mich jemand sucht, um mich umzulegen, dann glaube ich ihm.
»Weißt du mehr darüber?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. Nein, sonst würde er es mir sagen. Ich küsse ihn zum Abschied.
»Danke, Roger. Bis demnächst …«
Er hält mich einen Moment fest und sieht mir direkt in die Augen.
»Pass auf dich auf, du bist der letzte Schulfreund, den ich noch habe!«
»Das Gleiche gilt für dich!«
Claudia wartet vor dem Schaufenster einer Boutique auf mich.
»Sie kennen ja merkwürdige Leute!«
Ach du Schande, will sie mir jetzt etwa die ganze Zeit auf die Nerven gehen?
»Ein Schulfreund …«
»Aus welcher Schule kommen denn solche zwielichtigen Gestalten?«
Das Mädel geht mir auf den Keks!
»Da kommt wohl die Bulette durch, was?«
Sie verzieht das Gesicht. Ruhig, Constantin, du musst immerhin eine Weile mit diesem tron de l’air zusammenwohnen … Entspann dich! Ich lächle, um meine bissige Bemerkung wiedergutzumachen, und erkläre freundlich: »Aus der Schule der Freundschaft. Was er in der letzten Zeit treibt, will ich gar nicht so genau wissen … Mich persönlich hat er noch nie in seine krummen Geschäfte mit reingezogen.«
Sie seufzt.
»Freundschaft ist etwas Schönes … Na gut! Gehen wir, Herr Grieche! Übrigens, sind Sie wirklich Grieche?«
»Nein, ich bin in Marseille geboren, aber mein Vater war Grieche … Und Ihr Name … Vidal … Wo kommt der eigentlich her?«
»Aus dem Südwesten, Toulouse. Meine Eltern leben immer noch da unten.«
Wir fahren die Rue Saint-Pierre entlang.
Ich necke sie ein wenig.
»Ich wette, Ihr Vater ist Gendarm … Klassisches Schema … Die nächste Generation steigt in der Hierarchie auf … Und geht zur Kripo …«
»Falsch geraten«, versetzt sie pfiffig. »Meine Eltern sind Lehrer. Mein Vater unterrichtet Anthropologie, und meine Mutter ist Schulleiterin. Intellektuelle …«
Ein kurzes, verschmitztes Zwinkern.
»Kein klassisches Schema. Tut mir leid für Ihre Statistik!«
Ich lache. Die Kleine ist witzig … Aber ich bemerke, dass ihr Körper angespannt ist.
»Achtung … Halten Sie sich fest!«, ruft sie.
Dazu bleibt mir keine Zeit mehr … Plötzlich werde ich im Auto wild hin und her geschleudert, im Eiltempo geht es durch die verwinkelten Gässchen des Plaine-Viertels. An einer Kreuzung bremst sie plötzlich, setzt zurück, legt den Vorwärtsgang wieder ein, hält die Kupplung aber noch gedrückt. Rasch zieht sie ihre Knarre raus und hält sie unter dem geöffneten Fenster in der linken Hand.
»Beeindruckend! Werden wir angegriffen?«
Sie antwortet nicht. Den Blick starr auf die Straße gerichtet, mustert sie jedes einzelne Fahrzeug, das uns passiert. Sie ist sehr konzentriert. Fünf Minuten vergehen …
»Okay …«
Sie steckt die Waffe wieder ein und fährt los.
»Entschuldigen Sie, ich dachte, wir würden verfolgt, aber anscheinend …«
»Verdammt, Sie haben mir einen Heidenschrecken eingejagt!«
Schließlich parkt sie den Wagen an der Ecke Rue Château-Paillant und Rue Nau.
»Wir sind da.«
Wir steigen aus, und ich helfe ihr mit den Einkaufstaschen. Was immer sie gekauft hat, es reicht sicher für einen ganzen Monat gemeinsamer Mahlzeiten. Ich kann mir eine Bemerkung darüber nicht verkneifen.
»Nein, das ist nur fürs Mittagessen … Für die restliche Zeit schicken wir unseren Verbindungsmann mit einer Liste in den Supermarkt.«
Nachdenklich bleibt sie stehen.
»Aber … wie lange soll das überhaupt so weitergehen?«
Ich zucke mit den Schultern. Keine
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