Die Gassen von Marseille
uns … lieben können. Sag es mir. Sag mir, dass du mich geliebt hättest …«
»Ich hätte dich geliebt, Claudia. Ich liebe dich …«
Ich streichle ihren Kopf. Ein Schleier legt sich über ihre Augen.
Plötzlich kommt sie zurück, wird nervös, packt meinen Arm.
»Constantin! Ich habe dir das Leben gerettet …«
Ja, ja, Claudia …
»Ja, Claudia.«
Sie versucht, meine Aufmerksamkeit zu fesseln, und ich merke, wie schwer es ihr fällt.
»Du schuldest mir …«
Ja, alles, was du willst!
»Ich will … ich will …«
Ihre Stimme wird schwächer. Ihr Blick verschleiert sich.
»Was? Was willst du?«
Ein Moment vergeht. Sie horcht auf ihren Körper. Ich hoffe inständig, dass sie noch genug Zeit haben wird, es mir zu sagen … Was?
»Ich will, dass du ins Département Haute-Loire fährst, um … meine Schwester Isabelle zu besuchen. In Chambon-sur-Lignon … im Kloster …«
»Im Kloster? Ist sie Nonne?«
»Ja, ja … Frag nach Schwester Hugoline … So heißt sie …«
Hugoline?
»Deine Schwester? Ja, Hugoline, ja … Ich fahre zu ihr, Claudia. Ich fahre hin, versprochen. Ins Département Haute-Loire. Aber …«
Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern, so schwach, dass ich mein Ohr an ihren Mund pressen muss. Ich spüre, wie sich ihre Lippen bewegen, an meiner Ohrmuschel Laute formen …
»Sag ihr, dass du es bist …«
Sie verstummt, um neue Kräfte zu sammeln. Ich verstehe nicht. Was soll ich in diesem Kloster?
»Dass ich es bin … Ich fahre zu deiner Schwester und sage ihr, dass ich es bin … Claudia?«
Ihre Stimme ist nur noch ein Hauch.
»Dass du der Mann bist, den ich gewählt habe. Und du wirst ihr alles erzählen …«
Der Mann, den sie gewählt hat?
»Was alles …?«
Ihre Hand scheint sich in meine eingebrannt zu haben.
»Die ganze Wahrheit … über deine Juliette. Versprich es mir … bitte …«
Ich bin verblüfft. Sie weiß von Juliette. Meine Liebste … mein Albtraum … Sie weiß davon.
»Aber woher …? Juliette? Ich verstehe nicht …«
»Psst … Constantin, versprichst du es mir? Du wirst es nicht vergessen, nicht wahr? Der Mann, den ich gewählt habe. Und du erzählst ihr alles über Juliette …«
»Aber …«
»Schwöre«, verlangt sie mit letzter Kraft.
Ich verzichte auf weitere Erklärungen.
»Ich schwöre es …«
Dann stirbt sie in meinen Armen …
Ein schmerzvolles Zucken, und sie ist tot.
Ich wiege sie noch lange.
Und so finden mich Philippe und seine Leute, Claudia-Juliette in meinen Armen … Ich weiß nicht mehr genau, wen ich in den Armen halte. Im Tod überlagern sich die Menschen, die man liebt. Um uns herum liegen noch zwei andere Leichen. Sie haben Mühe, mir zu erklären, dass ich die junge Frau loslassen und mit ihnen gehen soll.
Ich bin nicht ganz klar im Kopf. Sie geben mir eine Spritze, die mich in Tiefschlaf versetzt.
Tief und traumlos …
Als ich erwache, bin ich bei mir zu Hause.
Ich kann die typischen Geräusche des Panier-Viertels ausmachen. Um sechs Uhr früh bimmeln die Glöckchen im Clocher des Accoules zur Frühmesse.
»Ding, ding, ding, ding, ding, ding …«
Die Möwen, die Raben des Meeres, krächzen. Gabians, wie sie hier genannt werden.
Der Mann von der Stadt stellt das Wasser an, offiziell, um die Straße zu reinigen … In Wahrheit öffnet er bloß den Hahn, und sobald das Wasser aus dem Auslauf fließt, hat er seine Schuldigkeit getan und geht einen Kaffee trinken. Wenn es sehr heiß ist, wie im Moment, hat man das Gefühl, es regnet, und fühlt sich im Halbschlaf herrlich erfrischt. Dann hört man das Tuckern der Pointus, die vom Fischen zurückkommen. Wieder da aus dem Café, fegt der Mann pfeifend die Straße. Stets die gleiche Melodie. Der Triumphmarsch aus der Aida.
Verdi ist okay …
Doch dann stört ein ungewohntes Geräusch die Harmonie dieses frühen Morgens. Es ist ein Schnarchen. Ich hebe den Kopf, um zu sehen, wer da auf meinem Sofa schläft, und erblicke einen kleinen, rundlichen Mann.
Philippe!
Mit einem Mal ist alles wieder da. Das Massaker, der junge Polizist, der Killer, Claudia … Ich stöhne.
»Was ist los? Constantin?«
Ich habe ihn geweckt. Sein weißes Haar ist verstrubbelt, und dunkle Ringe liegen unter seinen blauen Augen, die heute nicht ihren üblichen Charme versprühen.
»Dein hypnotischer Blick ist weg …«
»Was für eine Nacht!«, klagt er.
Ja, was für eine Nacht … Trotz allem strahlt die Sonne hell vom Himmel. Man muss dazusagen, dass die Sonne in der Provence nicht
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