Die Gassen von Marseille
recht!
»Scheiße! Da ist jemand!«, rufe ich.
»Ich weiß, ich hab ihn gesehen. Achtung, gleich rumpelt’s!«
Sie lenkt den Wagen nach links, genau auf die Mauer zu. Fatche, was macht sie denn jetzt? Die Reifen blockieren, wir rumpeln den Bürgersteig hoch. Die Wand kommt näher! Erst im letzten Moment reißt Claudia das Steuer herum. Mit quietschenden Reifen beschreibt der Wagen eine Vierteldrehung, und wir verlieren ein Stück des Kotflügels. Aber jetzt sind wir auf dem Gehweg, wo wir ungefähr zehn Meter zurücklegen, wobei wir Mülltonnen nach rechts und links zur Seite schleudern. Irre! Vor uns erscheint eine Treppe, die zur Parallelstraße hinunterführt. Sie wird doch wohl nicht …? Doch, sie tut es tatsächlich!
»Voor … siiicht«, brülle ich.
»Bing, beng, bong …«
Au, verdammt, es passt! Knapp zwar, aber wir kommen durch. Es geht weiter über den Bürgersteig, und dann lenkt Claudia den Wagen in aller Seelenruhe in der falschen Richtung durch die Einbahnstraße. Zum Glück ist heute Morgen kein Mensch unterwegs …
»Wow! Was für ein Stunt!«
Sie antwortet nicht. Konzentriert fährt sie weiter. Jetzt sind wir vor dem Justizpalast, und die junge Frau tritt weiter das Gaspedal durch. Wir brausen durch die ganze Stadt; erst als wir die Rue Saint-Pierre erreichen, wird sie langsamer.
»Da war tatsächlich ein Verfolger, aber Sie haben das Arschloch abgehängt!«, sage ich bewundernd.
»Ja, dem hab ich’s gezeigt …«
Ihr Tonfall lässt mich erschauern. Sie parkt. Dann legt sie freundschaftlich eine Hand auf mein Knie.
»Tut mir leid … Ich bin total erledigt. Hab ich dich zu sehr durchgeschüttelt?«
Ich beruhige sie.
»Ich verstehe nicht, wie er uns finden konnte. Am besten rufe ich gleich den Kommissar an, damit er uns Verstärkung schickt. Ich habe mir das Kennzeichen gemerkt, vielleicht erwischen sie ihn ja …«
Wir betreten ihre Wohnung. Im Garten begrüßt uns die Sonne, unbeeindruckt von den Leiden der Menschen …
Die aufgeregten Vögel beginnen mit ihrem lautstarken Gezwitscher, und die ersten Zikaden stimmen ihre Flügel.
Wir setzen uns in den Garten unter die Platanen.
»Also gut, werfen wir mal einen Blick auf die Fotos. Danach rufe ich im Évêché an, und dann ab ins Bett!«
Sie sagt das mit einer Stimme und einem Blick, dass ich es lieber vorziehe, an etwas anderes zu denken. Gerade als ich die Schachtel mit den Fotos öffne, läutet es an der Tür.
»Das muss Justin sein …«
Sie steht auf, um zu öffnen.
Es klingelt hartnäckig weiter.
»Ja? Wer ist da?«
»Justin …«
Der Klang seiner Stimme gefällt mir nicht. Bestimmt liegt es daran, dass er uns stört. Die junge Frau entledigt sich wieder ihrer Waffe und öffnet. Kaum hat sie den Riegel gelöst, da fliegt die Tür auch schon mit einem Krachen gegen die Wand. Dabei erwischt sie Claudia.
Justin kommt herein. Er hat einen Arm auf den Rücken gedreht und eine Knarre am Hals. Der Mann, der ihn bedroht, ist groß und breit. Trotz einer frühen Glatze sieht er ziemlich gut aus. Er mustert uns kühl.
»Was wollen Sie?«, fragt Claudia.
Wortlos deutet er auf die Wand. Wir sind wie versteinert. Als Nächstes verpasst der Typ Justin einen Schlag mit dem Lauf seiner Kanone. Der Polizist stöhnt auf, Blut läuft über seine Schläfe. Der Mann wiederholt seine herrische Geste.
»Schnell!«
Wir gehorchen und stellen uns an die Wand. Er stößt den jungen Rotschopf von sich, und Justin fällt vor unsere Füße. Claudia hilft ihm hoch.
»Er hat unten auf mich gewartet, ich konnte nichts tun …«, sagt er gekränkt.
Der halbkahle Typ schneidet ihm das Wort ab.
»Halt’s Maul! Umdrehen!«
Ich bin nicht mehr müde, ich habe Angst.
Neben mir spüre ich, wie Claudia ihre Muskeln anspannt. Sie hat etwas vor. Meine Angst wächst. Ich rede, um den Killer abzulenken, und versuche dabei, die in mir aufsteigende Panik zu bezwingen.
»Geht es schon wieder um diese blöde Erpressungsgeschichte? Sie irren sich!«
»Schnauze!«, unterbricht er mich trocken.
Justin handelt. Bestimmt ist er stocksauer, weil der Typ ihn reingelegt hat, vielleicht will er auch nur vor seiner Kollegin gut dastehen … Mich überrascht er damit jedenfalls vollkommen. Er wirft sich urplötzlich gegen die Beine unseres Angreifers, woraufhin dieser auf ihn fällt. Doch den Killer bringt das nicht aus der Ruhe. Ohne ein Wort zu sagen, verpasst er dem jungen Bullen zwei Kugeln in den Kopf. Ich sehe das Mündungsfeuer, den Einschlag der
Weitere Kostenlose Bücher