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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilles Del Pappas
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erkenne große Erleichterung und einen Anflug von Dankbarkeit in Philippes blauen Augen. Er will etwas sagen, aber die alte Dame kommt ihm zuvor …
    »Bitte den Kaffee nicht zu stark für mich, Kleiner … und mit vier Stück Zucker. Kaffee kann ich nur noch trinken, wenn er ganz süß ist … Früher war das natürlich anders …«
    Philippe beginnt zu brodeln.
    »Bitte, Esther!«
    Mit einem Blick deute ich auf meinen Freund, der kurz davor ist, zu explodieren.
    Sie lacht über ihre eigene Schwatzhaftigkeit.
    »Ja, ja, ich bin ja schon still.«
    Endlich verstummt sie.
    Ich mache den passenden Kaffee zur pompe à l’huile, einen echten estouffe-guàrri, einen »Rattenersticker«, wie man dieses Gebräu hier nennt. Dann krame ich in meinen Erinnerungen. Alles ist ziemlich lange her … mindestens zwanzig Jahre … Ich erinnere mich an jenen Dezemberabend, einen ungewöhnlichen Geburtstag …
    Klingeling.
    »Eine Zisterzienserabtei!«
    »Eher ein nepalesisches Kloster.«
    Alix und ich schauen uns lachend an. Diese junge Schwatzliese behauptet allen Ernstes, man könne am Läuten der Türklingel erkennen, welches Getränk man als Nächstes serviert bekommen wird.
    »Gut … Hmm … Das ist einfach …«, erklärt sie in entschiedenem Ton. »Champagner! Oder ein grüner Kräuterlikör aus einem Trappistenkloster, Chartreuse oder so etwas … Oder tatsächlich Buttertee.«
    »Bäh!«
    Ich lächle über die Späße der Blondine. Wir sind noch nicht völlig betrunken … Das ist die vierte Wohnung, deren Alkoholvorräte wir inspizieren. Nacheinander haben wir bei zwei Freunden von Alix, Rotwein und Wodka, und zweien meiner Bekannten, Champagner und Rotwein, getrunken. Es steht zwei zu zwei. Na ja, nicht ganz … Meine Freunde hatten den besseren Wein!
    Jetzt bin ich wieder an der Reihe. Alte Freunde, die schon seit Ewigkeiten in der »Cité Radieuse« wohnen, der von Le Corbusier erbauten Wohneinheit … Émilie und Pedro. Und es könnte durchaus sein, dass das junge Gör an meiner Seite recht behält. Bei ihnen gibt es mit Sicherheit Schampus … Das heißt, wenn sie noch welchen im Haus haben.
    »Ja, Champagner … Durchaus wahrscheinlich, nistonne, gut erkannt!«
    Die bunte Tür, rot wie alle Wohnungstüren an der achten »Straße«, wird geöffnet.
    Es ist meine Freundin Émilie.
    »Hey, der Grieche!«
    Sie wirkt überrascht. Normalerweise besuche ich sie nur, wenn ich vorher ordnungsgemäß eingeladen wurde. Sonst treffe ich sie meist außerhalb, vor allem in dem Dekorationsgeschäft, das sie mit einer Freundin zusammen führt.
    Ihr Blick fällt auf Alix, die ein Stück hinter mir steht. Ich stelle die beiden Frauen einander vor.
    »Émilie, Alix … und umgekehrt.«
    Émilie mustert sie mit einem raschen Blick, dann begrüßt sie Alix und lässt uns herein. Die kleine Familie lebt in einem großen Modul. Heutzutage gilt es in Marseille als ausgesprochen schick, im »Corbu« zu wohnen. Das war nicht immer so. Als der berühmte Architekt diesen Wohnblock realisiert hatte, waren die Nachbarn so schockiert über den Sichtbeton und die kühnen Linien, dass sie das Gebäude »la maison du fada« tauften, »das Haus des Verrückten«. Aber das ist Geschichte … Der Eingang der Maisonettewohnung liegt im oberen Geschoss. Von dort aus gelangt man direkt in die Küche. Sie ist konsequent modern eingerichtet – weiß mit einem durchsichtigen Geländer, von dem aus man auf das geräumige Wohnzimmer hinunterblickt. Im Hintergrund gibt ein riesiges Panoramafenster den Blick auf die Corniche, das nahe Meer, den Leuchtturm von Planier, der uns sein schwaches Licht sendet, die Inseln und l’Estaque frei.
    Als wir das Wohnzimmer betreten, schaltet Pedro den Fernseher aus. Aus Höflichkeit? Oder schämt er sich vielleicht, zuzugeben, dass er den gleichen Blödsinn anschaut wie alle anderen …? Pedro gibt sich gerne intellektuell, liest Huma-Dimanche, Révolution und Le Monde Diplomatique. Er ist Leiter einer Firma und gleichzeitig Kommunist in einer kapitalistischen Gesellschaft. Diesen Widerspruch führt er im Diskurs zusammen, aber wer weiß …
    Trotzdem scheint er sich zu freuen, mich zu sehen.
    »Constantin!«
    Er umarmt mich fest und versetzt mir einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Ein echter Kerl eben. Seit Neuestem trägt er einen südamerikanisch anmutenden Schnurrbart – eine kleine Koketterie, die seinen Latin-Lover-Charme noch steigert.
    »Was verschafft uns denn die Ehre, Grieche?«, fragt Émilie

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