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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilles Del Pappas
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und ich war außer mir vor Freude. Ich hatte mir eine ganze Geschichte zusammenfantasiert, über meinen Vater, einen König im Exil … Das kleine naive Mädchen … Er hat mir schnell gezeigt, wie das Leben wirklich ist …«
    Es geht ihr schlecht. Ich respektiere ihr Schweigen. Meine große Blondine hatte keine besonders glückliche Kindheit.
    Ich fahre schweigend weiter. Die blauen Rauchkringel hüllen uns ein, verbinden uns. Wir überqueren die Corniche Kennedy. Die Ilôt des Pendus und die beiden Inselchen von Endoume ragen aus dem schwarzen Wasser. In der Ferne erkenne ich die Frioul-Inseln im orangeroten Licht. Die Straße folgt dem Küstenverlauf, vom Strand von Roucas-Blanc bis zur Anse de la Fausse Monnaie. Auch ich denke nach.
    »Glaubst du nicht, dass wir lieber zu Freunden von mir gehen sollten?«, frage ich vorsichtig. »Ich habe das Gefühl, dass der Besuch bei dem Alten dich ziemlich mitnehmen würde. Und wir hatten doch gesagt, heute Abend lassen wir es uns gutgehen. Erinnerst du dich? Unser Geburtstag …«
    Ich spüre, dass ich die Oberhand gewinne. Sie zögert …
    »Ich habe eine wirklich nette Freundin in l’Estaque, die uns sicher ein Glas ausgeben wird. Wenn du dann immer noch willst, besuchen wir deinen Alten eben danach. Es liegt sowieso auf dem Weg …«
    Sie sagt nichts. Kein Nein ist ein Ja, denke ich.
    Wir sind schon an der Plage des Catalans. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzähle ich ihr, dass wir als Jugendliche oft auf der Mole gegenüber dem berühmten Marseiller Strand schwimmen gingen. Der einzige Strand, für dessen Benutzung man bezahlen musste.
    »Wir waren den ganzen Tag über da draußen. Das Schlimmste war immer abends, wenn die Sonne unterging … und wir nach Hause mussten. Wir waren fix und fertig nach dem Tag am Meer, und es war eine Qual noch einmal ins Wasser zu gehen, um zurückzuschwimmen.«
    Das junge Mädchen betrachtet die ungewöhnlichen Bauten.
    »Die Gebäude hier sehen seltsam aus … Sie erinnern mich an die Normandie … Irgendwie passen sie gar nicht nach Marseille.«
    »In meiner Kindheit war das hier einer der wenigen Sandstrände, an denen man baden konnte … Zusammen mit der Pointe Rouge …«
    »Und der Prado-Strand?«
    Ich lache.
    »Oh là là! Nein, der war viel zu verschmutzt von der Huveaune. Da haben nur die Verrückten gebadet, und das mitten im Sommer. Meistens Fremde … Ich war da nur im Winter schwimmen … Vor allem bei Mistral. Damals, noch in den Sechzigern, spritzte das Wasser bis auf den Gehweg. Und wegen der heftigen Windböen sogar auf die Straße.
    Ich erinnere mich, dass wir immer mit den Mädchen rausgefahren sind, in einem grünen Straßenkreuzer, für den wir alle unser Geld zusammengeschmissen hatten. Wir knutschten mit Blick auf das tosende Meer. Das aktuelle Mädchen war immer total verängstigt und ließ mich ein bisschen an seinem knospenden Busen herumfummeln. Wahnsinnig romantisch … Der kalte Wind, das entfesselte Meer und wir beide, durchgeschüttelt von den Elementen, den heftigen Windböen … Bis irgendwann die große Karre das Interesse eines Bullen erregte und er sich die Insassen mal genauer betrachten wollte. Das war das Ende meiner amourösen Abenteuer dort. Ich war erst sechzehneinhalb und hatte noch keinen Führerschein …«
    Mit meinen »Marseiller Geschichten« habe ich Alix zum Lachen gebracht. Ich bin froh darüber, denn ich spüre, dass die verworrene Erinnerung an ihre Kindheit nicht gut für sie war …
    Während wir weiterplaudern, erreichen wir l’Estaque, ein kleines Dorf mit großer Bedeutung für die Malerei: Hier hat Cézanne seine große künstlerische Wandlung erfahren, hier hat Braque den Kubismus erfunden, hier haben Maler wie Guiguou, Monticelli, Renoir, Macke, Derain, Braque, Dufy, Othon Friesz und Marquet in der klaren Luft, die der Mistral von allen Unreinheiten befreit hat, ihre Inspiration gesucht. Außerdem hat dieses Viertel etwas Geheimnisvolles an sich … Vor allem abends; hier ist die Dunkelheit strahlender, tiefer, magischer …
    »Heute Nacht ist alles möglich«, sage ich zu der jungen Belgierin.
    Sie sieht mich an … mit ihren hellblauen, verwirrenden Augen …
    »Ja, alles ist möglich … Was willst du damit eigentlich sagen?«, fügt sie hinzu und bricht in Gelachter aus. Ich lache ebenfalls. Ein Funke ist übergesprungen, voller Saft, voller Sex. Ich parke direkt am Meer.
    Meine Freunde wohnen am Hafen, mitten im Stadtzentrum. Von unten sieht man das große

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