Die Gassen von Marseille
Panoramafenster in ihrem Wohnzimmer. Ja, da oben brennt Licht, sie schlafen nicht … Der Hauseingang befindet sich hinter der Hauptstraße in der Rue des Scaphandriers.
»Bing.«
Knapp, kurz, klangvoll.
Ein kleiner Test für Alix … Sie denkt nach, denkt immer noch nach und lächelt mich schließlich an.
»Ich würde sagen, irgendwas Klares. Rum, Wodka, in der Art … oder dieser südamerikanische Schnaps, in dem ein Wurm schwimmt. Feuerwasser. Mezcal … Jedenfalls etwas Hippes. Sollen wir wetten, Grieche?«
Die Familie steht eigentlich eher auf provenzalischen Rosé, aber heute Abend will ich mich auf nichts mehr verlassen …
»Hmm, ich weiß nicht … Wir werden gleich sehen …«
Im Treppenhaus ertönt lautes Getrappel. Das Haus hat mehrere Stockwerke, der Wohnbereich liegt im zweiten und dritten Stock. Eine Hündin bellt. Waff, waff …
»Lola, Lola!«, rufe ich sie beim Namen.
»Waff, waff …«
Jemand stochert im Schloss herum. Die Tür fliegt auf. Es ist Jeanne … Um die vierzig, klein, kurzes, weiß gefärbtes Haar. Sie trägt eine Hose aus schwarzem Kunstleder.
»Constantin …!«, schreit sie in einer Lautstärke, die ganz l’Estaque aufwecken wird. Dann fällt sie mir um den Hals … Der alten Hündin bleibt kein Platz mehr, um mich anzuspringen und ihre Freude kundzutun, also knabbert sie an meinen Beinen und zerrt knurrend an meiner Hose.
»Hey, und was ist mit mir? Wieso kümmert sich keiner um mich, ich bin doch auch hier … Was für ein Hundeleben!«
Ich wehre meine stürmische Freundin ab und stelle sie wieder zurück auf den Boden … Dann streichle ich die Hündin.
»Ja, ich hab dich auch lieb!«
»Jeanne, das ist Alix«, stelle ich ihr die große Belgierin vor. »Wie geht’s?«
Ich mustere sie aufmerksam.
»Deine Haare sind ja ganz weiß …«
»Was soll ich machen, das Alter … Quatsch, die sind gebleicht, du Trottel!«
Sie lacht und knufft mich in den Bauch.
»Schön, dass du da bist! Tiffanie und Zéra sind auch gerade gekommen, und Béatrice schaut mit ihrem Sohn ebenfalls auf einen Schluck vorbei. Sie sitzen alle oben und trinken. Du hast einen guten Riecher, gerade jetzt hier aufzutauchen!«
Tiffanie ist Jeannes Tochter. Sie arbeitet in Paris als Akrobatin im Lido. Ihre Freundin Zéra, eine große, braunhaarige Jugoslawin mit apartem Adlerprofil, ist Verrenkungskünstlerin. Zwischen uns knistert es seit jeher irgendwie, aber es ist nie etwas daraus geworden. Nach einem Kinobesuch haben wir sogar einmal die Nacht zusammen verbracht, aber wir waren ganz brav … Nur gute Freunde … Dabei haben mich meine Fantasien fast umgebracht … Eine Verrenkungskünstlerin … Was soll ich sagen? Nichts … Nach diesem Nicht-Ereignis hat sich meine Leidenschaft gelegt, aber wir kommen immer noch gut miteinander aus, und ich freue mich, die beiden jungen Pariserinnen zu sehen.
Wir steigen hintereinander die Treppe hoch, als Letzte die schwanzwedelnde alte Hündin. Im Vorbeigehen bemerke ich, dass sich Jeannes Dekorationstalent wieder einmal materialisiert hat: Ein Trompe-l’œil aus grünem Marmor zieht sich die gesamte Treppe hoch.
»Wow, das ist ja Carrara!«, rufe ich meiner Freundin hinterher.
Wir bleiben stehen und betrachten die geäderten Tafeln.
»Gefällt es dir?«, fragt Jeanne. »Ich habe eine Woche dafür gebraucht … Auftragen, trocknen …«
»Es sieht lustig aus. Ach, übrigens …«
Ich deute auf die Tür neben dem Treppenaufgang.
»Ist der Metzger immer noch da?«
Ihre Miene verfinstert sich. Bravo, Grieche! Meister im Salz-in-die-Wunde-Streuen … Als Jeanne und Josselin ihr Haus gekauft haben, war der untere Teil, der auf den Hafen hinausgeht, bereits an einen Metzger vermietet, das Erdgeschoss und ein Raum im ersten Stock. Was bedeutet, dass der Gute jederzeit in ihre Wohnung platzen konnte. Unsere frischgebackenen Hausbesitzer setzten alle Hebel in Bewegung, um die Zimmer zurückzubekommen, aber ohne Erfolg … Daraufhin setzte zwischen den Parteien des Hauses ein regelrechter Krieg ein. Aktuell hat der Metzger die besseren Karten … Aber da ich meine verbissene Freundin kenne, habe ich keinen Zweifel daran, dass der Kampf weitergehen wird … Jeanne zuckt resigniert mit den Schultern …
»Ich habe mir einen Anwalt genommen … Mal sehen, was er machen kann … Aber lass uns jetzt nicht von solch ärgerlichen Dingen sprechen, sondern lieber etwas trinken.«
Wir steigen weiter die steile Treppe hinauf. Im obersten Stock kommen wir in einen
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