Die Gassen von Marseille
ein Glas ein. Dann gießt er Wasser auf den Zuckerwürfel. Alix sieht neugierig zu, wie die Flüssigkeit Tropfen für Tropfen in den Absinth fällt und ihn allmählich milchig färbt.
»Ist das stark?«, fragt sie.
Lautes Gelächter schlägt ihr entgegen. Tiffanie, die bestimmt nicht mehr beim ersten Glas ist, erklärt: »Bloß ein bisschen Molke …«
Ich dagegen denke an Gustave Flaubert, der gesagt haben soll: »Ein äußerst starkes Gift: ein Glas, und Sie sind tot. Das Getränk hat mehr Soldaten umgebracht als die Beduinen …«
Alle lachen. Das nach Anis schmeckende Getränk rinnt vermeintlich unschuldig durch meine Kehle … Trocken wie eh und je – ich habe ihn tatsächlich noch nie lachen sehen – setzt Josselin einige metallene Spielzeuge in Gang, die er über die Theke laufen, springen, zappeln und zirpen lässt. Alix’ Augen leuchten. Sie lacht unvermittelt auf, abgehackt wie ein zerbrechender Ast, ein Lachen, das ihre nervöse Natur verrät.
Béatrice trinkt, scheinbar ohne die Wirkung des Alkohols zu spüren. Sie ist Archäologin und erzählt mir von ihrer Ausgrabung in Roquepertuse.
»Roquepertuse, der durchbrochene Fels … das liegt in der Nähe der Weinkooperative von Velaux.«
Sie berichtet mir von dem merkwürdigen Gefühl, das sie überkam, als sie zum ersten Mal diese noch unberührte Stelle entdeckte, dieses erstaunliche salluvische Heiligtum, eine Art Halbrund, das sich an den Berghang anlehnt. Von der Ergriffenheit, die sie erfüllte, als sie einen Adler darüber hinwegfliegen sah, ein sehr ungewöhnlicher Anblick in der Abenddämmerung. Von den zitternden Schatten der Bäume im blauen Mistral. Wie in einem wahnhaften Albtraum hat sie die einstigen Bewohner des befestigten Dorfes gespürt …
»Während des Angriffs schreien sie ihren Schmerz, ihre Angst und ihren Hass hinaus … die Kinder, die Frauen … das Massaker …«
All das hat sie gesehen, und dieses Erlebnis hat sie gezeichnet. Es hat sie dazu getrieben, das Oppidum wiederzuentdecken … Wiederzuentdecken, da an dieser Stelle bereits zu Beginn des Jahrhunderts Ausgrabungen durchgeführt worden waren. Ich lausche den Worten der leidenschaftlichen jungen Frau, während sie mir von dem zweigesichtigen Hermes erzählt.
»Sie haben ihn Hermes genannt, weil sie glaubten, es sei ein griechischer Grenzstein. Deine Vorfahren schmückten die Straßen mit zweigesichtigen Hermesstatuen, wobei das eine Gesicht die Vergangenheit symbolisierte und das andere die Zukunft.«
Sie erzählt mir auch von den Schädeln der besiegten Feinde, die einbalsamiert und in eigens dafür vorgesehene Nischen in den steinernen Pfosten gelegt wurden, und davon, was Diodor von Sizilien und Strabon darüber geschrieben haben, von den Entdeckungen, die sie in der Zwischenzeit gemacht hat … Sie hat Bruchstücke von sitzenden Kriegerstatuen gefunden und Stücke vom Schnabel des Vogels, die alle bisherigen Studien über diese Vorfahren und ihre Sitten revolutionieren.
»So, wie man den Schnabel früher zusammengesetzt hat, wurde aus dem Vogel eine Ente. Aber wenn die Stücke, die wir gefunden haben, passen und ich recht habe, dann handelt es sich in Wirklichkeit um einen Bussard. Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied! Stell dir mal vor, ein Volk, das sich einen Bussard als Symboltier wählt … statt einer Ente … Überhaupt kein Vergleich!«
Ihr leidenschaftlicher Monolog reißt mich mit. Beim zweiten Glas verspreche ich ihr, dass ich irgendwann einmal mit ihr graben und selbst in die Geschichte eintauchen werde.
Ihr Sohn schläft in Zéras Armen, die uns mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen zuhört. Jeanne spielt uns ihre lustigsten Platten und Kassetten vor. Bruder Jakob, Nougaro, Toulouououse! Dann schnappt sie mich, und wir legen einen wilden Rock’n Roll hin. Es ist spät, sehr spät …
Oder eher früh, als ich mich – wie auch immer – in meinem Wagen wiederfinde.
Diesmal fährt Alix, und ich versuche, meine Hand unter ihren Rock zu schieben. Sie lacht, das kleine Luder.
»Hör auf, wir sind da.«
Sie hält an. Ich bin überrascht von der plötzlichen Stille. Um genauer zu sein, von der Qualität dieser Stille, ruhig, gelassen, heiter, friedlich. Es ist eine von den erfüllten, komplexen Stillen.
Nach und nach werden mir die Geräusche der Nacht bewusst. Im Vordergrund das Meer. Ganz nah, das Rauschen, das Kommen und Gehen der Wellen, körperlich, erotisch. Dann blenden sich die Tiere ein, das Zirpen von Insekten,
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