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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilles Del Pappas
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riesigen Raum, der die gesamte Grundfläche des Hauses einnimmt. Auf der einen Seite trennt eine Bar den Wohnbereich von einer offenen Küche, auf der anderen zieht sich ein riesiges Panoramafenster über die gesamte Breite des Zimmers. Bunte Neonlampen beleuchten die Wände. Auch die haben Jeanne und ihr Freund Josselin selbst gemacht.
    Béatrice, eine große, feingliedrige Frau, lehnt an der Bar, den Blick auf Zéra gerichtet. Tiffanie spielt mit Béatrices Sohn Flugzeug. Sie liegt rücklings auf dem Boden, die Beine im rechten Winkel angehoben, und der kleine, blonde Junge liegt begeistert mit ausgebreiteten Armen auf ihren Füßen. Dann öffnet sie die Beine, und er flüchtet sich, vor Vergnügen laut kreischend, in ihre Arme. Ich begrüße Zéra, die quasi zur Familie gehört, mit einem Küsschen. Tiffanie fällt mir mit lautem Freudengeschrei um den Hals.
    »Ganz die Mutter, meine Kleine …«, sage ich mit aufgesetztem pied-noir- Akzent.
    Ich trete zurück und mustere sie für einen Moment.
    »Also wirklich, Mädels, ihr seht bezaubernd aus …«
    »Was für ein Kompliment für den Rest von uns …«, sagt Béatrice in gespieltem Zorn. Sie dreht mir den Rücken zu und konzentriert sich demonstrativ auf einen großen, mageren, phlegmatischen Mann: Josselin, Jeannes Freund.
    »Das ist doch was ganz anderes … Ihr verkörpert die wunderbare Reife der Frauen, Frauen …« , betone ich noch einmal.
    Ich küsse sie und schüttele dem großen Schlacks die Hand. Dann stelle ich ihnen Alix vor. Josselin zieht zur Begrüßung eine Augenbraue hoch und fragt: »Kleiner Absinth gefällig?«
    Auf der Bar steht eine Flasche mit dem Etikett »Absinthas« …
    »Aus Barcelona?«, vergewissere ich mich.
    Die Flasche kommt mir bekannt vor. Dieses Getränk (dieses Gift?) findet man nur noch in Spanien – in Frankreich ist es seit Beginn des Jahrhunderts wegen seiner verheerenden Auswirkungen auf die Barbesucher verboten. Ich schaue mich um und nicke zufrieden. Meine Freunde trinken den grünen Likör mit einem kleinen Löffel und Zucker, wie es sich gehört. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich Absinth getrunken habe … Und daran, wie sturzbesoffen ich danach war …
     
    Es war im Barrio Chino, dem Rotlichtviertel von Barcelona. Ich bin mit mehreren Freunden unterwegs, da zwinkert mir an einer Straßenecke plötzlich ein Kneipenschild düster zu, »Le Massalia«. Natürlich müssen wir da rein und etwas trinken. Die Kneipe ist ziemlich schäbig. Im Inneren ist alles dunkel, die Fenster schon seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt. Eine schmierige Dreckschicht sperrt das Tageslicht vollständig aus. Kaum sitzen wir auf den wackligen, klebrigen Stühlen, da fällt mir auf, dass ich mal pissen muss. Also verziehe ich mich ans Ende des Raums, klettere über ein Durcheinander von uralten Bierkästen nach unten, öffne eine grausig quietschende Tür und entdecke die Toiletten. Und während ich versuche, nicht darauf zu achten, mit welchen Flüssigkeiten der ganze Boden verklebt ist, entdecke ich neben diversen pornographischen Zeichnungen den Satz: »Bestellt Absinth, der ist super hier!« Der freundliche Schreiber der Klobotschaft hat alle Schlaufen seines Textes mit struppigen, schwarzen Haaren verziert, sodass jede von ihnen ein weibliches Geschlechtsteil darstellt. Ich bewundere gerade gebührend diesen Einfallsreichtum und den künstlerischen Wert des Werkes, als die Worte in mein Bewusstsein dringen.
    Absinth!
    Rimbaud, Verlaine, Cézanne, Van Gogh und all die anderen Genies dieses Jahrhunderts haben von jenem Trank der Götter gesprochen. Sollte es in diesem versifften, vergessenen Loch tatsächlich noch das göttliche Gebräu geben, das so viele unserer Künstler auf die rutschigen Abhänge des Schaffens geführt hat?
    Als der Kellner auftaucht, bestelle ich, bevor auch nur einer der anderen den Mund öffnen kann, mit lauter Stimme: »Einen Absinth!«
    Schweigen … Meine Freunde blicken abwechselnd zu mir und zum Kellner, um zu sehen, wie er die Sache aufnimmt. Er wirkt nicht überrascht. Ich glaube sogar, in seinen kleinen, nur scheinbar schläfrigen Augen ein leises verschmitztes Funkeln zu erkennen. Nachdem die erste Verblüffung verflogen ist, bricht der Tumult los. Wir kippen gleich hintereinander zwei Gläser. Ich bin schlagartig besoffen. Und danach … weiß ich nichts mehr … Darum antworte ich auf Josselins Frage jetzt lieber vorsichtig: »Aber nur einen kleinen Schluck …«
    Josselin schenkt jedem von uns

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