Die Gassen von Marseille
Heuschrecken, die Rufe der Nager, der Raubtiere, der Vögel …
»Wo sind wir?«, frage ich die junge Blondine mit den endlosen Beinen.
Sie lacht.
»Kein Wunder, dass du nicht auf den Weg geachtet hast, du warst ja vollauf damit beschäftigt, unter meinen Rock zu linsen … Nun denn, du erotomaner Grieche, Verehrer meines Höschens, wir sind beim Tunnel von Rôve. Auf der alten Küstenstraße.«
Ich versuche, witzig zu sein.
»Verehrer …? Begehrer kommt der Sache schon näher …«
Ich lache. Das ist gut … Ich lache über meinen eigenen Witz.
Wir stehen vor einem respektabel aussehenden eisernen Gittertor, das erst kürzlich neu gestrichen wurde. Der hoch stehende Mond überstrahlt inzwischen das Leuchten der Sterne, und der Pinienwald sticht in seinem Licht so deutlich hervor wie am helllichten Tag. Vier Uhr!
»Ein bisschen spät, um noch zu klingeln, findest du nicht?«
»Wir klingeln ja auch nicht … Komm mit!«
Sie klettert auf einen Baum, der dicht beim Gitterzaun steht, und springt einfach auf die andere Seite. Daran, wie mühelos sie das Hindernis überwindet, erkenne ich, dass sie diesen Weg schon oft genommen haben muss. Ich folge ihr. Mir ist bewusst, dass mich nur der Absinth und der ganze restliche Alkohol, den ich heute Abend getrunken habe, dazu bringen, auf diese Weise das Grundstück zu betreten – ohne zu fragen oder zu klingeln. Einfach hopp, über den Zaun! Ich falle auf die Schnauze, weil ich ein Loch übersehen habe, und bekomme einen Lachkrampf. Alix ruft mich zur Ordnung.
»Psst! Im Wohnzimmer brennt noch Licht.«
Ich versuche aufzustehen und stolpere in ihre Arme. Sie hilft mir. Ich lache immer lauter und stecke sie mit meiner Ausgelassenheit an. Je diskreter wir sein wollen, desto unbeherrschbarer wird unser Lachkrampf. Eigentlich klar. Trotzdem schaffen wir es nach einer Weile, uns wieder zu beruhigen.
»Los, komm weiter.«
Alix nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Durch die offenen Fenster dringt Musik. Ich glaube, es ist Alibert, ein Sänger aus den Dreißigerjahren.
»Si nos cœurs tendrement font un beau rêve
Nous nous croirons, tu verras
Dans un slipinge tout le long de la Riviéra
Car quand on s’aime d’amour extrême
Tout paraît plus beau ici-bas
Si tu veux tout autour de la corniche
En tramouais tous les deux comme des riches
Entre l’eau et le ciel bleu
Nous ferons le voyage le plus merveilleux …«
Es ist ein einfaches Landhaus mit den beiden typischen Platanen davor. Ein Mann sitzt in einem Sessel und blättert Papierstöße durch, beleuchtet von einer Lampe aus Glaspaste, die auf seinem Schreibtisch steht. Das Zimmer ist recht groß, luxuriös eingerichtet, gediegen. Viel Holz, an der Wand Gemälde von kleineren provenzalischen Malern … Der Mann ist um die siebzig, ein weißer Haarkranz ziert seine Glatze. Es sieht fast so aus, als würde er in seinem Ledersessel schlafen. Ein Riemen läuft um seinen rosigen Schädel und hält eine Augenklappe, die sein linkes Auge verdeckt. Unvermittelt schiebt der alte Pirat die Papiere von sich weg, steht auf und geht hinaus.
»Constantin, hilf mir reinzuklettern, schnell!«, flüstert Alix aufgeregt.
»Was?«
»Ja, mach mir eine Räuberleiter. Na los, du lahme Ente …«
»Hey, der Typ kriegt ’nen Herzinfarkt!«
Das junge Mädchen unterdrückt ein Lachen.
»Beeil dich, er kommt gleich wieder …«
Ich lege meine Hände vor dem Körper zusammen, sie stellt einen Fuß hinein und springt in das große Zimmer. Vor meinen entzückten Augen sehe ich ihren runden, weißen Hintern vorbeihüpfen. Eilig flitzt sie hinter den Sessel und kramt in dem großen grünen Metalltresor, dessen Tür einen Spalt offen steht. Ich höre die Schritte des Mannes.
Er kommt zurück!
»Alix, psst …«, zische ich.
Genau in dem Moment, als er die Tür öffnet, springt sie mit einem Satz aus dem Fenster und rollt sich auf der Terrasse ab. Ich habe das Gefühl, eine Katze vor mir zu sehen. Eine hübsche, weiße Katze. Der Mann horcht einen Moment aufmerksam, er hat ein Geräusch gehört. In der Ferne bellt ein wütender Hund. Beruhigt lächelt er und setzt sich wieder hin. Er nimmt einen Stapel Papier in die Hand und versenkt sich erneut in seine Lektüre. Alix zieht mich am Ärmel.
»Komm, Constantin, lass uns verschwinden …«, flüstert sie mir zu.
Ich folge der Gazelle mit den endlosen Beinen, die jetzt über die dicken, rutschigen Piniennadeln sprintet. Als ich sie einhole, bemerke ich, dass
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