Die Gassen von Marseille
und legt sie auf das Schneidebrett. Dann nimmt sie das große Messer mit dem Horngriff, klappt es auf und … spürt jemanden dicht hinter sich – seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Im gleichen Moment weiß sie Bescheid … Eine Stimme, die sie gut kennt, die sie liebt, flüstert ihr zögernd ins Ohr: »Mademoiselle … Ich bin’s, Agostino … der Maurer …«
Sie unterbricht ihre Bewegung … Ihr Herz klopft wild. Vor Aufregung ist sie wie gelähmt. Mit starrem Rücken hebt sie den Blick zum Postkalender, auf dem ein schneebedeckter Berg zu sehen ist …
»Stimmt es, dass … Mademoiselle!«
Gleich wird ihr Herz explodieren … Der junge Mann nimmt seinen ganzen Mut zusammen.
»Jemand hat mir gesagt, dass Sie mich lieben …«
Ihr wird schwindlig, sie schließt die Augen.
Die Klinge teilt die Zitrone in zwei Hälften … und schneidet ein Stück von ihrem Zeigefinger ab … Sie schreit leise auf und blickt dann wie betäubt auf das Blut, das Tropfen für Tropfen auf das saure, weiße Zitronenfleisch fällt.
Sie spürt keinen Schmerz.
Dieses Blut, das aus ihr heraustropft, ist für sie ein Symbol, ein Zeichen, das ihr den Verlust ihrer Jungfräulichkeit verheißt …
Je suis partout, Artikel vom 30. August 1941
Das jüdische Marseille
Ich weiß sehr wohl, dass es eine nicht zu verachtende Elite reizender und vernünftiger Marseiller Bürger gibt, die von furchtlosem Patriotismus durchdrungen sind, ebenso farbig und voller Kraft wie die Menschen aus den Bergen der Haute-Provence, treu und fleißig, wenn es sein muss.
Aber es existiert auch der ganze Rest, der sehr viel deutlicher ins Auge sticht: dieser gemischtrassige Pöbel, diese ölige, olivhäutige Vulgarität, diese Frucht wer weiß welcher bizarren und unreinen Kreuzungen, diese Mischung aus Kameltreibern, Armeniern, Maltesern und Smyrnioten – an dem einzigen Ort in Frankreich, an dem der Niedergang der Rasse durch Vermischung tatsächlich Wirklichkeit geworden ist.
Es gibt das Proletariat trauriger Neger mit schäbigen Kreissägen auf dem Kopf und blauen Latzhosen, diese Massen flohverseuchter Streuner, die sich mit Gaunern mit blauem, lackglänzendem Haar herumtreiben, diese aubergine- oder mandarinenfarbenen Hemden. Wenn wir die Dinge von einer höheren Warte aus betrachten, gab es in Marseille im September 1939 etwa fünftausend Juden. Nach der großen Flucht 1940 waren es hunderttausend und vielleicht sogar noch mehr. Und jetzt leben hier im Durchschnitt immer noch rund fünfzigtausend Juden. Zehnmal mehr als früher: Das ist eine der augenfälligsten Folgen der Nationalen Revolution.
Rebatet
Ein kurzer, schriller Pfiff. Sie weiß, das ist Agostino.
Ihr Herz schlägt schnell.
Heute Nacht ist es so weit …
Sie steht auf und zieht ihre Filzstiefeletten an. Es ist Winter … Freitag, Vorabend des Sabbat. Es ist kalt. Seit letztem Jahr heizen sie zu Hause nicht mehr. Zum Glück wohnen sie in der Provence. Sie bemitleidet die Menschen, die im Norden leben. Sie hatte sich nicht unter ihr Federbett legen wollen, denn sonst hätte sie sich ausziehen müssen. Und sie wollte bereit sein. Für ihn, sofort … Es ist zehn Uhr. Ihre Eltern schlafen seit ungefähr einer Stunde. Sie essen früh im Winter. Das junge Mädchen mag die warme Jahreszeit lieber. Der Strand von Les Catalans, die kleine Hütte in La Treille … Und jetzt sehnt sie zusammen mit Agostino den Sommer herbei … In den Calanques … Sie beide allein … Sie hat ein Fahrrad, ein großer Luxus … Er spart gerade, um sich auch eins kaufen zu können. Dann werden sie zusammen in eine Jugendherberge fahren. Ihre Eltern werden es ihr bestimmt erlauben. Sie ist sicher, dass sie heiraten werden, er hat es ihr versprochen. Wie ihre Eltern wohl reagieren werden? Ein Italiener? … Natürlich katholisch. Sie lacht beim Gedanken an die Szene. Aber ihre Familie liebt sie, deshalb … Ihre Schwester hat immer noch keine Ahnung …
Sie legt hastig ein wenig Rouge auf und schminkt sich die Lippen. Sie wollte ihr Make-up nicht vorher auftragen, denn sie hat nur wenig davon und muss sparsam damit umgehen … Schnell, der Junge wartet sicher unten. Sie dreht die Flamme des Öllichts herunter. Sie wird zurück sein, ehe es hell wird …
Sie haben für heute Abend keine Pläne gemacht, aber sie wissen beide, was geschehen wird. Leise schleicht sie die Treppe hinunter, wobei sie auf die dritte Stufe nach der ersten Etage achtet. Diese Stufe quietscht fürchterlich. In der letzten Zeit wird
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