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Die Gassen von Marseille

Die Gassen von Marseille

Titel: Die Gassen von Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilles Del Pappas
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sie jede Nacht von dem Opa aus dem zweiten Stock geweckt, wenn er nachts rausmuss. Es gibt nur eine Toilette im Haus, und die ist im Erdgeschoss. Die Nächte des jungen Mädchens sind im Moment sehr lang. Sie schläft unruhig … Sie will endlich bei Agostino liegen. Manchmal sehnt sie sich so sehr danach, dass es wehtut … Aber heute Abend …
    Sie geht hinaus und schließt leise die Tür. Ein Körper presst sich von hinten an sie. Es ist ihr Geliebter, Agostino. Sie unterdrückt einen Aufschrei.
    »Psst«, flüstert er zärtlich, »du weckst noch das ganze Viertel auf!«
    Er küsst sie auf den Nacken. Seine Hände tasten schon nach ihren schmerzenden Brüsten. Trotz des dicken Rocks und der Baumwollstrumpfhose spürt sie das Verlangen des jungen Mannes an ihrem Hintern. Sie stöhnt.
    »Du hast mich erschreckt! Küss mich!«
    Als sie sich umdreht, küsst er sie so leidenschaftlich, dass ihr ganz schwindelig wird.
    »Agostino …«, haucht sie, »ich liebe dich …«
    Sie küssen sich wieder.
    »Hast du Holz besorgen können? Mir ist eiskalt!«
    Er lacht.
    »Ich sorge schon dafür, dass dir wieder warm wird. Komm.«
    Er führt sie ins alte Viertel von Marseille. Sie weiß, dass er in der Rue de la République wohnt, einer bürgerlichen Straße am Rand des Panier-Viertels. Die Italiener leben alle in einem Haus, das ein alter Garibaldi-Anhänger kurz nach seiner Erbauung gekauft hat. Nach seinem Tod hat der Mann seinen gesamten Besitz einem italienischen Sozialwerk vermacht, das Wohnungen an seine Landsleute vermietet. Im Gedenken an den kämpferischen Gönner singt der junge Mann hin und wieder ein italienisches Revolutionslied.
     
    »Avanti populo
    alla riscossa, bandiera rossa, bandiera rossa
    avanti populo, bandiera rossa trionfera …«
     
    Gelegentlich singt er auch ein Kinderlied vor sich hin, einen Abzählvers:
     
    »La mia nonna antica,
    antica, antica,
    che puzzava di baccalà …«
     
    (Meine alte Großmutter,
    meine alte, alte,
    die stank nach Stockfisch …)
     
    Sie liebt es, wenn er singt. Ihre Mutter singt auch manchmal, aber das ist nicht das Gleiche. Sie singt strukturierte, ruhige Lieder. Die Lieder des jungen Mannes dagegen sind voller Wärme, Lebensfreude, Manneskraft … Sie liebt ihn … Es ist das erste Mal, dass er sie mit zu sich nimmt. Sie ist sich bewusst, dass er sich von ihr angezogen fühlt …
    Sie sieht nicht aus wie eine typische Provenzalin. Tiefblaue Augen, braunes Haar, groß, schlank … Häufig wird sie von Deutschen angesprochen, die in ihr ein Abbild ihrer Heimat sehen. Sie hasst diese Leute, die das Leben der Menschen und ihr Glück zerstören und nichts als Tod im Sinn haben … Dabei sind sie nicht alle so. Sie erinnert sich an einen Soldaten, der ihr im vergangenen Sommer ein Eis geschenkt hat. Sie hat ihn kühl angeschaut und das Eis mit voller Absicht vor seine Füße fallen lassen. Er hat sie kläglich angesehen, selbst fast noch ein Kind, und in seinen Augen hat sie Tränen glitzern sehen …
    Damals hat sie sich geschämt!
    Aber es gibt auch ganz andere Soldaten …
    Die nicht weinen, weil ein junges Mädchen ihr Eis nicht annehmen will. Die selbstsicheren Eroberer. Die Judenhasser. Boches, frisés, verts de gris, fridolins, wie sie hier genannt werden … Dieser Hass in ihr ist neu. Sie und eine Freundin hatten gehört, dass die Piaf auf der Durchreise nach Marseille kommen und im Hotel Noailles erwartet würde. Sofort waren sie hingeeilt, um nicht den Mythos der großen kleinen Edith zu verpassen. Und sie hatten sie gesehen. Lächelnd, winzig, eingehüllt in einen riesigen Pelzmantel, war die Sängerin durch ein Ehrenspalier deutscher Soldaten geschritten, am Arm eines wunderschönen jungen Mannes in der Uniform der Wehrmachtsoffiziere. » Té, das ist Roger D.«, hatte eine alte Frau ihnen begeistert erzählt. »Der Schauspieler, er hat sich verlobt. Ist er nicht schön!«
    Ja, er war tatsächlich schön … Sie hatte ein unangenehmes Gefühl verspürt, das sie sich anfangs nicht erklären konnte … Doch je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es für sie: Die vielen Deutschen, der Franzose, der die Uniform der Besatzer trug, der riesige Pelzmantel, während sie selbst bis auf die Knochen durchgefroren war, das alles führte dazu, dass Édith Piaf nie wieder die Sängerin sein würde, die ihr Herz zum Klingen brachte …
    Und außerdem hat sie jetzt ihren Geliebten …
    Die novis gehen eng aneinandergeschmiegt. Sie sind allein auf der Welt.

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