Die Gassen von Marseille
Schiller liest ein weiteres Schriftstück mit Hakenkreuz im Briefkopf.
»Das hier ist das Protokoll einer Versammlung«, erklärt er, und nachdem er sich eingelesen hat, fährt er fort: »Vielleicht ist es von Vorteil, wenn ich den Hintergrund kurz anreiße. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika fürchten die Deutschen um Südfrankreich … Also besetzen sie Ende zweiundvierzig die freie Zone … Die französische Flotte versenkt sich im Hafen von Toulon selbst, und die Vichy-Armee wird aufgelöst … Kaum sind die Deutschen hier angekommen, sehen sie sich Anschlägen ausgesetzt …«
Er klopft auf die Blätter.
»Diese Versammlung hat am 13. Januar 1943 beim Regionalpräfekten stattgefunden. Anwesend sind der Generalsekretär der Polizei, der Polizeiintendant, der Regionalpräfekt L., der Stadtpräfekt und Monsieur Auguste Roussel als Vertreter der Marseiller Unternehmer …«
Er überfliegt das Dokument schweigend und fährt dann fort: »Im Großen und Ganzen handelt es sich um Verhandlungen über die Zerstörung der Altstadt zwischen den Deutschen und Vertretern Marseilles und gesamt Frankreichs.
›Der Generalsekretär der Polizei hat den offiziellen Bericht und einen persönlichen Brief von ihm an Präsident Laval verlesen. Wir waren verblüfft, zu hören, dass die Tragweite der geplanten Maßnahmen in diesem Dokument in keinster Weise zur Sprache kam. Nur Präfekt L. und Monsieur Auguste Roussel haben ihre Zustimmung geäußert.‹«
Während ich zuhöre, wie er den Text übersetzt, lese ich gedankenverloren noch einmal Alix’ Brief. Irgendetwas an der gequälten Schrift irritiert mich, lässt mich stutzig werden. Plötzlich sehe ich ein gereinigtes Werkzeug vor mir, wie ein Ausrufezeichen graviert es sich in meine Netzhaut …
Und dann wird mir alles klar.
Die Erleuchtung!
Plötzlich kenne ich die Wahrheit. Es passt perfekt zusammen: der Brief, der stumpfe Gegenstand, der Postbote, die Geschichte … Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tischplatte und stöhne. Die drei Männer zucken zusammen.
»Was ist los, Constantin? Was hast du denn?«, fragt Philippe.
Zunächst sitze ich noch wie betäubt von meiner Entdeckung da, dann deute ich mit einem zitternden Finger auf den Dandy auf dem Foto.
»Ich weiß, wer ihn umgebracht hat … Ich kenne … diesen Dreckskerl …«
Sie trägt das hübsche, blaugeblümte Kleid, das ihre Mutter ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag genäht hat. Den Stoff dafür hatte ihr Vater zuvor auf dem Schwarzmarkt gegen Kartoffeln eingetauscht. Schon seit einem Jahr gibt es keine Baumwollstoffe mehr zu kaufen … Eigentlich gibt es überhaupt nichts mehr, sogar Seife ist ein Luxus. Darum müssen sie sparsam mit ihren Kleidern umgehen. Sie trägt es heute erst zum zweiten Mal …
Nun hofft sie, dass Agostino zum Essen kommt. Seinetwegen hat sie sich schick gemacht. Sein heller Blick, seine weißen Zähne in dem gebräunten Gesicht sind so schön … Seine Augen mit ihrer undefinierbaren Farbe erinnern sie an den Mistral … in jenen Momenten, in denen man sich nicht vor ihm schützen kann, wenn er sie von allen Seiten durchdringt … Sie erschauert … Es gibt Worte, die sie nicht mehr verwenden will … Und erst seine Fröhlichkeit, sein Lachen … In dieser Zeit nagt die Angst selbst an den stärksten Charakteren … Er ist wie ein frischer Windhauch voller Freude und Leben …
Seit gut einem Monat kommt er jeden Morgen in ihre Bar, zusammen mit den anderen italienischen Arbeitern. Ihr Chef bezahlt ihnen einen »Champoreau«, einen Kaffee mit einem Schuss Rum. Na ja, was heißt schon Kaffee? Es ist kein richtiger Kaffee! Dafür mit echtem Rum … Agostinos Chef ist noch dunkler als er. Er hat buschige Augenbrauen, und drahtige Haare wachsen ihm aus den Ohren. Monsieur Mario! Wenn sie es aussprechen, klingt es wie Marrio! Er erinnert an einen Komiker aus dem Stummfilmkino. Jeden Morgen macht er ihr mit seinem lustigen Akzent Komplimente.
»Ach, Mademoiselle, Ssie ssind die Ssonne meines Tages! Eine wahrre Prrimel …«
Und dann brechen sie alle in Gelächter aus, weil das junge Mädchen bis zu den Ohren errötet. Es ist ein schlichtes, fröhliches Lachen ohne jede Gehässigkeit, nichts als ein Ausdruck unschuldiger Freude über die Jugend und Schönheit dieses Mädchens.
Agostino arbeitet mit seinen Kollegen als Maurer auf einer Baustelle an der Place de Lenche, am Haus des Priesters, das dem Café genau gegenüberliegt. Es sind alles Italiener, ein gutes
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