Die Gassen von Marseille
des Hotels gewesen. Der Erfinder Louis Lumière persönlich bediente den Apparat. Ihr Vater war hingerissen gewesen und jedes Mal wieder hingegangen, sobald er die fünfzig Centimes Eintritt beisammenhatte. Er bekam nie genug vom »Zug bei der Einfahrt in den Bahnhof von La Ciotat«, »Säugling im Bad«, »Feierabend in den Usines Lumière« und den anderen kleinen Filmen, die die genialen Brüder gedreht hatten. Sobald seine Töchter alt genug waren, nahm er sie jeden Samstagabend in die vielen Kinos mit, die nach dem großen Krieg von 14-18 eröffnet worden waren. Aber jetzt gab es keine schönen Filme mehr. Alle propagierten die Ideologie von Vichy, und nur die boches besuchten noch die Vorstellungen … Ihr Vater hat ihr verboten, dorthin zu gehen. Als ob sie dazu noch Lust gehabt hätte …
»Was ist denn jetzt schon wieder los? Warum sind da draußen so viele Polizisten? Es ist doch noch zu früh für die Sperrstunde.«
In Paris hatte es im Juli eine groß angelegte Razzia gegeben, bei der alle Juden verhaftet worden waren. Die Gendarmerie hatte die Ärmsten mit Hilfe der SS deportiert. Zum Glück waren keine Verwandten des Mädchens unter ihnen gewesen, aber dennoch war all das beunruhigend. Im Oktober hatten die Deutschen dann auch die freie Zone besetzt.
Die obersten Vertreter der Juden in Marseille hatten ihre Gemeinschaft aufgefordert, »die Verpflichtungen einzuhalten, die Ihnen durch Gesetze, Dekrete und Verordnungen der französischen Regierung auferlegt werden, Ihre israelitische Herkunft nicht zu leugnen und in größter Bescheidenheit zu leben.«
Ihre Familie war von den Ereignissen, die sich im Juli und August in Marseille zugetragen hatten, verschont geblieben, da ihr Vater 1939 in Dieppe verwundet und dafür ausgezeichnet worden war. Deswegen war er der systematischen Erfassung entgangen.
Sie würde nie den gelben Stern tragen, niemals. Sollen sie sie doch anschreien …
Ein schwaches Licht dringt durch die blaue Scheibe in der Haustür. Sie mustern sich aufmerksam … um zu überprüfen … Nein, sie sehen sich nicht ähnlich. Er nimmt den Kopf seiner Liebsten in beide Hände. Sie sind rau vom Zement, aber sie können so sanft und zärtlich sein … Er sucht mit seinen Augen ganz nahe ihren Blick, damit nichts den Zauber stören kann.
»Ich habe noch nie solche Augen gesehen«, sagt er. »So blau! Du erinnerst mich an das Meer und den Himmel bei mir zu Hause …«
Sie ist gerührt und küsst ihn voller Leidenschaft. Er streichelt ihren Nacken. Sie spürt, wie sie dahinschmilzt … Dann löst er sich von ihr und sagt: »Lass uns hochgehen … Willst du?«
Sie nickt im dunklen Hausflur … Ja, sie will. Deswegen ist sie gekommen … Schweigend gehen sie die Treppe hinauf. Hin und wieder scheint unter einer Tür ein Lichtstrahl hindurch, oder sie hören ein fröhliches Lachen. Sie sind da. Der junge Italiener wohnt im obersten Stock in einer Dienstbotenkammer. Der Mond scheint durch das Dachfenster herein und beleuchtet das schlichte, kleine Zimmer. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl … Das sind die einzigen Möbel. An der Wand gegenüber dem Bett verbreitet ein kleiner Holzofen Wärme, durch die Glimmerscheibe fällt getöntes Licht. Dank dieses Ofens ist es in dem Zimmerchen angenehm warm. Sie hält den Jungen auf, als er die Öllampe anzünden möchte. Spontan greift sie nach seiner Hand und küsst ihn auf die Handfläche.
»Nicht!«, protestiert er.
Brüsk entzieht er ihr die Hand und nimmt sie weg.
»Bitte lass das, es macht mich verlegen …«
»Willst du nicht, dass ich dir die Hand küsse?«
»Nein … Es stört mich irgendwie … Weißt du, meine Mutter hat das immer bei meinem Vater gemacht … Darum …«
Agostino schließt sie in die Arme.
»Und doch, ich möchte, dass du mich unser ganzes Leben lang küsst … Jeden Tag und jede Nacht … Und vielleicht sogar mittendrin … Komm …«
Er zieht sie zum Bett, auf dem ein hübsches, bunt geblümtes Federbett liegt. Sie legen sich dicht nebeneinander und küssen sich … Er streichelt zärtlich ihre Brüste. Sie ist sehr aufgewühlt … Sie denkt an ihre Mutter und ihren Vater … Sie kann sie sich einfach nicht vorstellen, in derselben Situation wie sie jetzt, an ihrem ersten Tag …
Agostino drängt sie nicht. Im Zimmer ist es kuschelig warm. Sie zieht ihren dicken Mantel aus.
»Geht es? Ist dir nicht zu kalt?«
Sie lächelt in der Dunkelheit, denn sie spürt, dass er genauso verlegen ist wie sie selbst … Das
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