Die Gassen von Marseille
Ohne ihn hätte die junge Frau Angst, mitten in der Nacht durch dieses Viertel zu gehen. Vor dem Krieg herrschte in diesem überwiegend von Hafenarbeitern, Matrosen und Fischern, die auf der Straße ihre Netze flickten, bewohnten Viertel ein reges Treiben. Das Meer war überall gegenwärtig. Es gab unzählige Händler … Polsterer, Lebensmittelhändler, Fischweiber, Porzellan- und Steingutflicker. Dutzende und Aberdutzende kleiner Gewerbetreibender hatten ihre Wohnungen auf die Straße hinaus erweitert und lockten mit lauten Rufen ihre Kundschaft an … Heute sind die Straßen verlassen … Selbst die »heißen« Gassen, in denen die leichten Mädchen ihre Reize feilboten, sind menschenleer. Auch die Gauner, die sich immer in ihrer Nähe aufhielten, sind vor etwa zehn Tagen auf mysteriöse Weise verschwunden. Manche vermuten, dass die Deutschen sie vertrieben haben … Andere behaupten, sie seien bloß gut informiert, denn im Viertel würde bald etwas passieren … Es gab bereits mehrere Bomben. Die erste ist vor dem Hotel Astoria explodiert, als Nächstes eine vor dem Hotel Rome. Bei einem Attentat vor dem Hotel Splendid wurden zwei Nazioffiziere getötet. Eine weitere Bombe ist vor einem »gastfreundlichen Haus« in die Luft gegangen, in dem die Besatzungstruppen verkehren. Die bis dato letzte Bombe explodierte in einer mit Soldaten voll besetzten Straßenbahn … Sie kann sich denken, dass die boches das nicht einfach so hinnehmen werden. Aber an Agostinos Seite verschwindet ihre Angst. Er ist stark. Sie hat ihre Arme um seine Taille geschlungen und spürt seine Brustmuskeln unter ihren Fingern. Manchmal schwanken sie ein wenig, so stark berauschen sich ihre Körper aneinander. Trunken vom Verlangen, von ihrer jungen Liebe, von den Spielen, die sie bald …
»Halt. Stehen bleiben …«
Eine schneidende Stimme … Auf ihre Gesichter fällt ein Lichtstrahl. Überrascht und misstrauisch halten die beiden jungen Verliebten inne. Sie spürt, wie ihr Herz schlägt. Ein behelmter Wachmann kommt auf sie zu. Sein Licht blendet sie so sehr, dass sie nichts mehr sehen können.
»Wo wollt ihr denn hin, mitten in der Nacht?«
Agostino stammelt etwas davon, dass das junge Mädchen seine Schwester sei und sie beide nach dem Besuch bei einem kranken Verwandten auf dem Heimweg. Der Polizist unterbricht ihn.
»Bàbis! Die Könige der Spaghetti und Scherereien. Was machen wir mit ihnen?«
Er dreht sich zu einem Mann in Zivil um.
»Sollen wir sie festnehmen? Die beiden sind noch ziemlich jung …«
»Lass sie laufen …«, erklärt der magere, junge, in Gabardine gekleidete Polizist. »Es ist noch nicht zu spät, und das sind Kinder. Die sind nun wirklich nicht gefährlich! Los, ihr zwei, seht zu, dass ihr nach Hause kommt. Und ich rate euch, geht nicht mehr ohne eure Eltern nach draußen. Vor allem morgen früh nicht …«
Das Licht verlischt, und die beiden novis rennen davon. Sie stürzen in das große Haus in der Rue de la République. Jetzt lachen sie über die Gefahr und darüber, dass sie ihr unversehrt entronnen sind.
»Agostino, ich hatte solche Angst! Warte, ich bin noch ganz durcheinander.«
Sie lehnt sich an die Wand im Flur.
»Uff! Wie kommst du nur darauf, zu behaupten, ich wäre deine Schwester?«
Er lacht. Im Licht der Lampe sieht sie seine Zähne blitzen. Er ist so schön!
»Das war wegen Mario …«
Er sagt »Marrio«. Sie liebt ihn!
»Mario? Warum?«, fragt sie verwundert.
»Weil er sagt, dass man sieht, wie lieb wir uns haben … Er sagt, dass Verliebte sich ähnlich sehen, und bei uns könnte man fast glauben, wir wären Zwillinge. Als der Polizist uns gefragt hat … da sind mir Marios Worte eingefallen …«
Sie kommen allmählich wieder zu Atem. Sie hatten Angst … Seit sie einander treffen, seit jenem gesegneten Tag, ist die Lage in Marseille nicht besser geworden, im Gegenteil … Die Leute bekommen keine Lebensmittel mehr. Die berühmten Bars »Le Glacier«, »Le Bristol« und »Le Café Riche« bleiben leer. Schlangen vor den Lebensmittelausgaben, Rationierungen und Marken, eisige Kälte, keine Kohlen mehr zu finden. Sie gehen nicht einmal mehr ins Kino … Dabei liebt sie es so. Diese wunderbare Fata Morgana, diese weiße Magie … Ihr Vater hat sie mit dem Virus angesteckt. Er selbst hatte sich an jenem unglaublichen Tag infiziert, als er zufällig im Hotel Louvre et Paix in die erste Vorführung eines Kinematografen in Marseille geraten war. Es war am 6. März 1896 im goldenen Salon
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