Die Gassen von Marseille
Team; sie reden laut, klopfen einander mit männlichen Gesten auf den Rücken und singen den ganzen Tag.
Die Leute mögen sie nicht besonders … Sie nennen sie bàbis. Die Männer haben ihre italienische Heimat verlassen, um im industriereichen Frankreich Arbeit zu finden … manche auch aus politischen Gründen.
Das kosmopolitische Marseille mag seine jüngsten Einwanderer nicht. Wegen Mussolinis Misserfolgen in Albanien hält man sie für schlechte Soldaten. Es gibt eine italienische Version der Marseillaise, die die Kinder in ihrer Gegenwart anstimmen, um sie zu verspotten.
»Auf, auf, ihr Krieger aus Italien
Der Tag der Flucht, ist er nicht schön
Wir müssen fliehen aus Albanien
Wollen wir nicht alle untergehn!
Hört ihr sie nahen, bald sind sie da
Die Griechen, die grausame Schar
Marschieren gegen Tirana
Um uns zu schlagen, jetzt und immerdar
Zu den Waffen, Italiener
Auf, auf, lauft schnell nach Haus!
Lauft hin, lauft hin!
Es warten Spaghetti …«
Aber den fröhlichen Italienern macht das nichts aus.
Das junge Mädchen seufzt … In der Stadt wimmelt es von Einwanderern, die in steten Wellen in den Alten Hafen gespült werden: aus Smyrna vertriebene kleinasiatische Griechen, russische Aristokraten, so arm wie einst Hiob, vor Franco geflohene Spanier, Kroaten, Malteser, Nordafrikaner, Ostasiaten, Südamerikaner. Die neuesten Fremden sind die Armenier, die »tian-Händler«, wie sie wegen ihrer Namen genannt werden … Sie sind geflohen, weil sie Christen sind, und deshalb sind sie hier willkommener als bei ihrer eigenen Familie, wo sie als »dreckige Juden« beschimpft werden. Natürlich nur hinter ihrem Rücken … Die Leute kommen trotzdem noch in die große Bar der Familie des jungen Mädchens, um dort ihren Kaffee zu trinken. Im Viertel ist weithin bekannt, dass es dort sauber und hell ist. Außerdem schafft es ihr Vater immer noch, irgendwo Alkohol aufzutreiben. Und den Einwohnern ist das Stillen ihres Durstes wichtiger als ihre Angst oder ihr Hass. Trotzdem … Diese spöttischen, boshaften Blicke …
Das junge Mädchen hilft beim Bedienen. Sie sieht den klagenden Blick eines alten Mannes, der kein Sacharin mehr hat. Aber sie können den Gästen nicht mehr geben. Hilflos zuckt sie mit den Schultern. Das macht sie überhaupt gerne. Ihr ist aufgefallen, dass ihre Brüste bei dieser Bewegung nach oben wippen, was die Aufmerksamkeit der Männer erregt … Aber es gibt nur einen einzigen, dessen Blick sie gerne auffangen würde …
Plötzlich ertönt lautes Stimmengewirr. Endlich … Die Maurer kommen, und Agostino ist bei ihnen. Er lacht wunderschön und wirft dabei den Kopf in den Nacken, wie es niemand sonst macht. Die Italiener beobachten eine cagole, die draußen vorbeigeht und dabei mit ihrem dicken Hintern wackelt.
Es hagelt spöttische Bemerkungen.
»Madonna budella!«
»Accidenti … Donnerwetter!«, fügt ein anderer hinzu.
»La donna se ne va sculettando …! Die wackelt beim Gehen ja mit dem Arsch!«
Ihre fröhlichen Bemerkungen schallen durch den Raum … und erzeugen ein warmes Gefühl in ihrer Magengegend. Am liebsten würde sie mitlachen. Den anderen Gästen geht es ebenso. Auf ein paar Gesichtern bemerkt sie sogar ein leises, verschwörerisches Lächeln. Aber das junge Mädchen sieht nur ihn … Eine widerspenstige Strähne fällt ihm in die Stirn …
Sie spürt, wie sie rot wird.
»Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn … Schau mich an, du Dummkopf, sieh, wie sehr ich dich liebe!«
Ihr Herz klopft zum Zerspringen, wie eine Lokomotive, im Rhythmus ihrer Beschwörungen.
»Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn …«
Bumm, bumm, bumm … Da ertönt plötzlich ein Pfiff … Die laute Stimme ihrer Mutter hallt in ihren Ohren wider.
»He, Kleines, was stierst du so in der Gegend herum? Aufwachen! Siehst du nicht, dass die Sechs wartet? Los, mach schon!«
Sie zuckt zusammen. Ihre Mutter hat sie gerade auf frischer Tat beim Träumen ertappt. Die italienischen Arbeiter setzen sich an ihren Lieblingstisch … Das junge Mädchen geht zu Tisch sechs. Dort haben sich zwei novis niedergelassen.
»Guten Tag … Was darf ich Ihnen bringen?«
Die beiden sind kaum älter als die junge Kellnerin. Die blonde Frau schaut ihren Mann verliebt an.
»Ich nehme eine Suze mit einer kleinen Zitronenscheibe«, erklärt sie.
»Und ich einen Perroquet.«
Das Mädchen geht hinter die Theke und bereitet die Getränke zu. Sie nimmt eine Zitrone, wäscht sie gründlich
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