Die Gauklerin von Kaltenberg
weitere Wort ab und verschwand in der Nacht. Nur die schwankenden Zweige einer Bergfichte verrieten seinen Weg.
7
»Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes …«
Anna ließ Falconets Buch sinken und sah dem Pilgertrupp auf merksam entgegen. Schon von fern hatten sie ihre monotonen Gebete und Lieder gehört. Raoul hatte ihr den Platz im Sattel überlassen, ließ aber die Hand nicht vom Zügel. Immer wieder sah sie ihn über die Seiten hinweg forschend an. Damals in Kaltenberg war alles so einfach gewesen. Doch vor ein paar Tagen hatte sie zum ersten Mal einen Blick unter dem unsichtbaren Visier aufge fangen, hinter dem er sich verbarg. Und das, was sie gesehen hatte, war nicht, was sie erwartet hatte.
»Vor den Wilden Männern müsst Ihr euch hüten, die treiben hier ihr Unwesen.« Raoul hatte die Pilger angesprochen, und jetzt war deren Redefluss kaum noch zu bremsen. Anna bemerkte ihre nackten Füße, voll rissiger Schwielen. »Uns hat Gott beschützt, aber einem Kaufmann, der uns begegnet ist, haben sie schlimm zu gesetzt. Sie sind am ganzen Körper behaart wie Tiere.«
In Raouls Augen waren sie sicher weit irdischeren Ursprungs. Trotzdem dankte er höflich und fragte nach Neuigkeiten. Seit Ta gen hatten sie nicht gehört, was in der Welt vor sich ging.
»Am Hof von Konrad Brenner, oben am Pass, hat es schon ge schneit. Aber in Italien friert kein Fluss im Winter zu«, berichtete ein junger Bursche, der sicher nicht nur um seines Seelenheils willen nach Rom gepilgert war. »Da können die Treidelkähne sogar zu Weihnachten noch fahren. Und wenn Ihr Neuigkeiten wissen wollt«, raunte er verschwörerisch, »in Italien war das Meer rot wie Blut. Je des Kind weiß, dass dies eine der sieben Plagen ist, die das Jüngste Gericht ankündigen. Die Apokalypse steht unmittelbar bevor.«
»Ichbin zuversichtlich, dass ich vorher noch über den Pass komme«, meinte Raoul trocken. »Wo waren die Wilden Männer?«
Die Pilger zogen weiter entlang dem Wildbach, dem sie die ganze Zeit gefolgt waren, und Anna überließ Raoul wieder das Pferd. Sie hätte sich gern in einem der Becken gewaschen, die das Wasser in den Fels grub. Aber sie fühlte sich noch immer unwohl, wenn sie allein waren. Maimun war vorhin auf einer Bergwiese zu rückgeblieben, um Enzian und Kräuter für seine Tinkturen zu sam meln. Und der Bocksgeruch war nicht das schlechteste Mittel, einen Mann auf Abstand zu halten.
Wie so oft begann sie vor sich hin zu singen. Falconets Lieder gaben ihr das Gefühl, noch etwas von dem Gaukler bei sich zu ha ben. »In trutina mentis dubia fluctuant contraria: lascivus amor, et pudicitia.« Siedend heiß fiel ihr ein, was das bedeutete: Auf der Waage meines Herzens streiten widerstrebende Zweifel: laszive Begierde und Keuschheit . Die wenigsten Ritter sprachen zwar Latein, aber vorsichtshalber sang sie in unbeteiligterem Ton weiter.
»Das nennst du singen?« Raoul drehte sich im Sattel zu ihr um. Der Föhn wehte, aber er hatte die Cotte nicht abgelegt. »Du bist eine Possenreißerin.«
Der Weg war steil, und vom Singen war sie noch mehr außer Atem. Ihr war heiß, sie war schmutzig und hungrig. Aber sie war ihm beinahe dankbar. Es erschreckte sie, wie schwer es ihr fiel, in ihm den brutalen Plünderer zu sehen. »Seid Ihr auch ein Trouba dour?«, fragte sie schroff.
Ein abfälliges Lächeln spielte um seine schönen Lippen. »Wohl kaum. Liebeslieder sind meine Sache nicht.«
»Wer hätte das gedacht?«, erwiderte sie trocken. »Ulrich gefiel es jedenfalls.«
»Ulrich ist ein Narr. Und du bist eine viel größere Närrin, wenn du glaubst, er würde noch an dich denken.«
»Er war auf einem Kriegszug«, fuhr sie ihn an. »Aber wenn er erfährt, wo ich bin, wird er mich holen!«
»Daswusste er doch die ganze Zeit«, lächelte Raoul kalt. »Sag test du nicht, dass du die letzten Jahre in Freising warst?«
Anna blieb stehen. Sie spürte einen Stich. Sie war selbst maßlos enttäuscht gewesen, dass Ulrich nicht wiedergekommen war. Sie hatte so gehofft, wieder bei ihm in Kaltenberg leben zu können. Ihn an dem vertrauten Platz unter der Galerie des Palas zu küssen und ihn wieder im Rittersaal zu lieben. Ihre letzte Begegnung in Freising war so erfüllt gewesen, leidenschaftlicher denn je. Aber da war auch dieser falsche Ton gewesen, das Gefühl, nicht mehr in sein Inneres sehen zu können. Wütend erwiderte sie: »Kümmert Euch um Eure Armbrust, von Liebe versteht Ihr nichts!«
»Weil ich mehr
Weitere Kostenlose Bücher