Die Gauklerin von Kaltenberg
seine Schergen nachschicken. Einen Augenblick fragte sie sich, ob sie im Begriff war, einen Kirchendiebstahl zu be gehen. Oft hatte sie auf Marktplätzen die Gehängten gesehen, die dafür verurteilt worden waren. Obwohl ihr bei dem bloßen Ge danken daran übel wurde, senkten sich ihre Handflächen auf das Buch. Zögernd glitten ihre Finger über den Einband, dann legten sie sich fester darauf.
In dem Moment, als sie die Handschrift von ihrem Platz hob, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Sie hielt einen Schatz in den Händen, den mächtige Männer begehrten. In ihren Händen, den Händen eines einfachen Mädchens. Aber viel mehr noch: etwas, das vielleicht einmalig war. Die Vorstellung, dass noch in fünfhun dert Jahren jemand dieses Buch lesen und wissen würde, was sie damals gefühlt und getan hatten, war überwältigend. Diese Lieder waren aufgeschrieben. Sie würden bleiben, niemals wieder würde man sie vergessen. Sie waren unsterblich – wie das Wort Gottes!
Vorsichtig barg sie die Handschrift unter ihrem Kapuzenman tel und drückte sich die Treppe hinunter.
15
Es war Brauch am Abend von Maria Lichtmess, dass die freien Knechte und Mägde ihren Ausstand feierten. Aus der ganzen Um gebung waren sie gekommen, um ihren letzten Groschen zu vertrinken und zu verspielen, mit dem anderen Geschlecht eine Nacht zu verbringen, kurz: alles noch einmal in vollen Zügen zu genießen, was es in der nahenden Fastenzeit nicht geben würde.
Am liebsten hätte sich Anna mit der gestohlenen Handschrift sofort aus dem Staub gemacht. Sie hatte noch Geld, und gestern war eine Reisegruppe aufgebrochen, die sie einholen konnte. Die eiskalten Augen Herzog Leopolds hatten ihr gezeigt, dass sie keine Gnade zu erwarten hätte, wenn sie ihm in die Hände fiel. Aber vor morgen früh würde er den Diebstahl nicht bemerken. Und vielleicht würde sie Raoul nie wiedersehen. Sie konnte nicht ohne Abschied gehen.
Vor ihren Augen verschwamm die Schenke zu einem flirren den, kreisenden Band von Farben und ließ sie fast vergessen, was sie getan hatte. An den rußgeschwärzten Wänden brannten schon die Fackeln, Musik dröhnte, und auf dem Boden standen Pfützen aus verschüttetem Bier und Wein. Die Luft in dem niedrigen Ge wölbe war wieder einmal zum Schneiden. Anna kam auf den Bo den. Erhitzt vom Tanzen und vom Wein strich sie die roten Lo cken aus dem Gesicht. Da sah sie Raoul.
Er maß sie kurz über die Schulter, dann wandte er sich scheinbar gleichgültig ab. Ihr Tänzer wollte sie wieder hochheben, doch sie schob die abgearbeiteten Hände von ihren Hüften weg. Wieder spürte sie einen Stich, als sie Raouls dunkle Cotte zwischen den Feierndenverfolgte. Er scherzte und trank, und immer wieder sah er kurz in ihre Richtung. Doch er kam nicht herüber.
Die Erinnerung überfiel Anna, wie sie ihn zum ersten Mal ge sehen hatte: in der glühenden Abenddämmerung über Kalten berg. Als Feind. Sie sah noch die heftige Bewegung vor sich, mit der er den Helm abnahm und die schweißfeuchten Locken zu rückwarf. Mit jeder Faser ihres Seins hatte sie ihn gehasst. Aber da war dieser Augenblick in der Köhlerhütte gewesen. Seine aus drucksstarken Lippen, als er verletzt in ihren Armen lag. Sie ertrug die unsichtbare Mauer zwischen ihnen nicht mehr, die glühenden Wellen, die sie durchliefen, wenn sie irgendwo einen schwarzhaa rigen Mann in dunkler Kleidung sah.
Verstohlen flüsterte sie ihrem Tänzer etwas zu, und der lachte. Mit seinen kräftigen Armen hob er sie auf einen Tisch. Er hatte einen Brustkasten wie ein Fass. »Ruhe!«, brüllte er mit seiner voll tönenden Stimme, so dass sich alle Augen auf sie richteten.
Herausfordernd fixierte sie Raoul. Mit einem Schuh schob sie ein paar leere Humpen und Schüsseln beiseite und stampfte rhyth misch mit dem Fuß auf.
» Wenn wir zur Taverne gehen, fürchten wir nicht Tod und Teufel.« Sie würde ihm eine Bewegung entlocken, und wenn es der Griff zum Schwert war! Ein Zucken lief über sein Gesicht und feuerte sie an. Die Männer lachten und schlugen im Rhythmus des Liedes auf die Tische:
»Manche spielen, manche saufen, Sitten sind’s zum Haareraufen! … Auf den, der die Zeche zahlt! Zweitens: die im Kerker faulen, … Sechs tens auf die leichten Schwestern, siebtens auf die Beutelschneider. Ach tens auf perverse Brüder, neuntens auf versprengte Mönche … Zwölf tens auf den reu’gen Büßer. Dreizehn: Auf die Fahrenden. Auf den Papst und auf den König! … Trinkt der Arme, trinkt der
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