Die Gauklerin von Kaltenberg
Vermutlich will er seinem Feind zeigen, dass er trotz des ewigen Kriegs noch bei Kräften ist.«
»Ein Turnier in München?«
Die Glocke läutete zur Vesper. Arsatius richtete sich auf und hielt sich ächzend den Rücken. »Ich muss beten gehen. Nein, das Turnier findet auf der Burg eines seiner Ministerialen statt. Das spart dem König Kosten, und der Burgherr kann sich ins Gespräch bringen, ohne selbst verantwortlich zu sein. Muss ein ehrgeiziger junger Mann sein, dieser Ulrich von Rohrbach. Der Ort heißt Kal tenberg.«
Aufgewühlt ging Anna zum festungsartigen Gästehaus zurück. Der kahle Vorraum war kühl und dunkel, doch sie fror nicht. Sie lehnte sich neben der Fensternische an die Mauer. Soeben war die Sonne hinter den Bergen verschwunden, die wuchtigen Türme der Kirche hoben sich schwarz vom glühenden Himmel ab.
Wenn Raoul von dem Turnier erfuhr, würde er nach Kaltenberg kommen. Sie erinnerte sich, was der Reitknecht Hartmut auf Kal tenberg einmal gesagt hatte: In einem Turnier konnte man Leben und Ehre verlieren, selbst eine Burg. Vielleicht sogar einen Fluch brechen? Ein Kampf zwischen Raoul und Ulrich konnte nur einer auf Leben und Tod sein. Aber wem sollte sie den Sieg wünschen?
Mit einem erstickten Laut lehnte sie sich an den Stein. Was hatte sie nur getan? Früher hatte sie gewusst, wohin sie ging. Aber jetzt hatte sie ihren Weg verloren und fand nicht mehr zurück.
Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne wärmten ihre Wangen. Anna dachte an den Wildrosenstrauch, wo Ulrich sie vor Jah renzum ersten Mal geküsst hatte. Seine geflüsterten Zärtlichkeiten, die abgeknickten Blumen, als sie mit gerötetem Gesicht und wirrem Haar aufgestanden war. Er hatte sie zur Frau gemacht.
Wie weit konnten Gefangenschaft und das Schicksal einen Mann verändern? Seit dem Tod ihres Bruders war Raoul der erste Mensch, der ihr eine schon fast vergessene Wärme gab. Sie dachte an die Köhlerhütte in den Bergen, mitten im gelb leuchtenden Ne bel. Seine Hände in ihrem Haar, als sie es zum ersten Mal wieder genossen hatte, Frau zu sein. Das verstohlene Bedürfnis, ihn zu be rühren, ihn ständig heimlich anzusehen. Der warme Glanz in sei nen dunklen Augen, seine ausdrucksstarken Lippen, als er sie küsste und in ihr ein Verlangen weckte, das sie von sich nicht ge kannt hatte. Sosehr sie dagegen ankämpfte, sie konnte sich nicht dagegen wehren.
In Annas rotem Kleid knisterte der Wind, das Abendlicht über hauchte ihr Gesicht golden. Unter dem Tuch, das über ihrem flammend roten Haar geknotet war, war ihr warm. Sie sah auf die schwarzen Türme, als könnten sie ihr sagen, was sie tun sollte. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach dem Mann, den sie mehr als jeden anderen hassen müsste. Vielleicht hatte sie nicht einmal aufgehört, Raouls Tod zu wollen. Aber noch mehr als das wollte sie ihn.
6
Was sie in Benediktbeuern gehört hatte, beunruhigte Anna. Der Bruder Krankenpfleger ließ sie nur ungern gehen, aber sie hielt es nicht mehr aus. Vier Tage später war sie am Ammersee.
Als sie von Andechs durch den Wald zum See hinabstieg, hörte sie schon von weitem die singenden Männerstimmen. Der schwere Rhythmus erinnerte Anna an die Schritte müder Pilger, aber die Melodie war düster. An einer Biegung kamen sie ihr entgegen: Zwei Büßer schwangen, in dunkle Kutten gekleidet und auf Krü cken gestützt, Fahnen und murmelten eintönige Gebete. Die Ge schwüre in ihren Gesichtern und der trockene Husten erinnerten Anna an das Leprahospiz. Was immer diese Geschwüre verur sachte, es sah ansteckend aus. Sie wollte schnell an ihnen vorbei.
»Warte!«, wollten die Bettler sie aufhalten. »Eine fahrende Gauklerin hat sicher eine Medizin!«
»Nicht gegen den Aussatz.« Anna ging schneller. Hinter sich hörte sie das Klappern der Achselkrücken. Sie blickte über die Schulter. Die Bettler kamen ihr nach. Sie begann zu rennen.
»Warte, du verdammte Metze!«, hörte sie die Stimmen der Aus sätzigen in ihrem Rücken. Anna keuchte, und ihre noch schwa che Lunge schmerzte, aber sie rannte weiter. Unten am See muss ten Fischerhäuser sein.
Verschwitzt und mit stechenden Seiten erreichte sie das Ufer. Die Häuser waren auf Pfählen in den See hineingebaut, die Holzschindeln regengebleicht. Als sie dem Fischer von den Aussätzigen erzählte, ließ man sie sofort ein. Der Alte feilschte zwar eine Weile, aber schließlich versprach er nicht nur, sie über den See nach Schondorf zu setzen, sondern legte auch noch
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